Frühgen (ein Verzählchen)

Frühgen

Die Sonnenstrahlen kitzeln die kalte Erde Rügens, die gestern noch braun und reglos unter den nackten Baumkorallen lag. Die ganze Insel scheint zu gähnen und sich zu strecken. Die Hügel husten und drehen sich auf die andere Seite.
Der Bodden, der alte Morgenmuffel, schwappt träge und kalt, als würde er gleich wieder einschlafen und die Sache auf sich beruhen lassen. Und obgleich niemand gerne geweckt wird, ist es doch wunderbar, wenn man aufwacht und diese großartige, nagelneue Welt vorfindet, in der es so viel zu tun gibt, dass man niemals alles an einem Tag schaffen kann – und doch versuchen es alle. Denn Frühgen ist etwas ganz Besonderes – das weiß jeder hier und man hat schließlich auch einen Ruf zu wahren.

Die Birken ziehen sich leuchtend grüne Kleider an, zart wie Seide aus Morgennebel. Einige Käfer setzen sich darauf und staunen, wie gut es doch ist wach zu sein, wenn sich alle anderen noch rekeln und wie herrlich ein Birkenblatt dazu schmeckt.Ein Zitronenfalter flattert herum, den Bauch voll Nektar und wer sich die Zeit nimmt und ganz leise ist, kann sein Jauchzen hören. In den ersten Frühlingstagen möchten alle Schmetterlinge vor Freude und Spannung fast zerplatzen. Sie singen Lieder vom Neuanfang und die Hummeln summen ihren Teil dazu bei.

Die ganze Natur gerät in Bewegung. Aus Stille wird Musik. Das Tote wird lebendig. Die Leere füllt sich mit so viel Grün, dass für den Rest kaum noch Platz bleibt. Und um alles zu krönen, singen die Vögel, alle durcheinander und bejubeln jeden Tag, jede Stunde, als wäre dies der allererste Frühling überhaupt. Die Wälder erinnern sich lächelnd an den Winter, wenn die Blütenflocken ihre Schöße bedecken und nach und nach einen weißen Teppich weben, der alles unter sich bedeckt.

Aber dieses Weiß ist nicht kalt, es sind Milliarden kleiner Blumensterne, als wäre der Himmel auf den Waldboden gefallen. Der Otter tanzt wie trunken durch dieses Frühlingsfeuerwerk. Er macht sich eigentlich nichts aus Blumen, aber die Buschwindröschen haben es ihm angetan und manchmal möchte sich jeder wie eine Prinzessin fühlen.
Die Wildbienen surren wie toll und füllen die Luft ganz und gar mit ihrem Gebrumm.Die gewaltigen Buchenraupen, die seit jeher über die Steilufer kriechen, lassen sich knospend vom warmen Wind streicheln und recken ihre Zweige dem Himmel zu – noch sind sie silbrige Gespenster, doch ihren Schrecken haben sie bereits verloren.

Die Ostsee flüstert nur leise, viel zu ängstlich, den Frühling zu vertreiben, den sie doch insgeheim so sehr liebt. Also streichelt sie mit ihren Wellen, nur zärtlich die Steine am Strand, auf denen sich die Frühlingswärme niedergelassen hat und küsst zärtlich seine Wolken am Horizont und raunt so sanft sie es vermag:

‚Es ist Frühgen.‘

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