Wir waren tatsächlich am Arsch, wenn ich das so sagen darf. Nicht nur, dass sich Friedrich ausgesperrt hatte und wohl in Kürze einen erschrecklichen Kältetod sterben musste, so waren auch für den morgigen Tag die ersten Gäste im Anmarsch. Denn obgleich ich umgehend eine E-Mail an alle schickte, dass es Probleme gab, erreichte ich zwei Zimmer nicht.
Die hätten dann die steifgefrorenen Überreste des armen
Friedrich gefunden, was nicht nur peinlich, sondern auch unhygienisch
gewesen wäre. Nein, das durfte nicht passieren. Vielleicht wäre ein
Schlüsseldienst das Mittel der Wahl. Jedoch war es bereits nach 22 Uhr
und Freitag. Auf Rügen bekommt man, in der Regel, nichts, wenn man es
braucht – nicht in der Woche und am Wochenende schon gar nicht. Kein
Taxi, keinen Krankenwagen, keine Polizei, keine Pizza, keine freundliche
Begrüßung, rein gar nichts. Und je weiter man Richtung Rugeshus fährt,
desto seltener werden die Ausnahmen, die die Regel bestätigen. In
Rugeshus ist man so weit weg von der Zivilisation, dass einfach die
Gesetze der Wildnis herrschen. Wenn man das Mirakel zuwege gebracht hat,
einen Klempner nach Rugeshus zu locken, muss man ihn festhalten und
nicht mehr loslassen – wir haben speziell für diesen Umstand Ketten im
Keller (nein, das ist nur ein Witz, die Ketten sind für die Maler). Und
ich rede nicht einmal von einem guten Klempner. Das gleiche Problem hat
man bei dem Personal, wenn man nämlich in Versuchung gerät jemanden zu
feuern, muss man in der Regel abwägen, was einem lieber ist: die Arbeit
wird schlecht ausgeführt, oder gar nicht. Zudem sind Schlüsseldienste
teuer und machen auch hin und wieder die Schlösser kaputt, die sie
öffnen.
Bevor ich also nach einem Schlüsseldienst Ausschau halten
wollte, rief ich meinen Vater an. Der hat oft sehr gute Ideen, mit einer
Krise fertig zu werden. Ich wählte also mit zitternden Fingern seine
Nummer, es tutete, jemand nahm ab und ich brüllte Zeter und Mordio in
den Hörer.
„Hey! Nicht so laut!“, ließ sich mein Vater vernehmen.
Ich schilderte ihm in gedrosselter Lautstärke, dass wir eines der
größten Probleme, in der Geschichte, des von Friedrich geleiteten
Silvesters hätten – oder so ähnlich. Ich glaub ich drückte mich
kompakter und dramatischer aus – unterbrochen von kurzen, hysterischen
Lachanfällen. Mein Vater wirkte bestürzt, räusperte sich und verlangte
dann eine genaue Erklärung des Unglücks. Ich sollte ihm jedes, noch so
unwichtig erscheinende Detail erzählen und nichts auslassen, damit er
mittels seines überragenden Verstandes, eine Lösung finden könne – er
drückte sich nicht ganz so hochtrabend und optimistisch aus.
Am Ende
meines Redeschwalls entstand eine lange Pause und mein werter Papa
grübelte in sich hinein. Und während dieses edlen, geistigen Prozesses,
erschien mir der alte Herr, der schon so viele Winter erlebt und so
viele Krisen gemeistert hatte, wie ein Abbild der großen Weisen der
Menschheitsgeschichte. Ibn Sīnā, Einstein, Dr. Oetker, der Erfinder der
selbstreinigenden Klobrille und viele andere Größen des Denkens,
wirbelten wie ein Herbstblättersturm an meinem inneren Auge vorbei.
Warum habe ich solange mit meinem Anruf gewartet, mein Vater würde eine
schnelle und elegante Lösung finden, die mir mal wieder zeigen würde,
wie viel ich noch zu lernen hatte. Und als das Oberhaupt meiner Familie
seine Meditation beendet hatte, sprach er mit der hellen Stimme des
Propheten, um die Nacht meiner Unwissenheit zu erhellen:
„Sag Friedrich, dass er ne Fensterfensterscheibe einschlagen soll.“
„Was?!“, fragte ich fassungslos.
„Ja, ich denke das wird ok sein. Steine gibt es ja am Strand genug, oder?“, fügte er hinzu.
„Stein? Strand? Ähm… meinst du nicht, dass es nicht so klug wäre, eine
Scheibe zu zerdeppern? Wegen Einbrechern, der Kälte und so… ich meine ja
nur.“
Mein Vater dachte darüber nach. „Sag ihm, er soll ein Fenster
hinter dem Haus nehmen, da sieht es keiner. Hinterher kann er ein Stück
Pappe drüber kleben.“
„Pappe? Und wie reparieren wir das dann?“, ich dachte mit Schrecken an alle den Ärger, den wir haben würden.
„Vielleicht finden wir ja noch einen Glaser“, mein Vater wirkte recht aufgeräumt.
„Einen Glaser? Auf Jasmund? Wovon zum Teufel redest du da?!“, wie schon
gesagt sind Handwerker auf Rügen ungefähr so rar, wie Badegäste an
einem Steinstrand. Soll heißen, sie könnten theoretisch vorhanden sein,
aber man sieht sie in der Regel nicht und wenn doch, schwimmen sie
irgendwo weit draußen herum.
„Maul mich nicht an“, mein Vater wirkte
verdrießlich, „Wenn dir meine Ideen nicht gefallen, finde andere. Ruf
doch einen Schlüsselnotdienst an, dann zahlen wir etwas mehr, aber die
können die Tür öffnen.“
Ich dachte darüber nach, vermutlich hatte mein Vater recht.
„Na gut“, gab ich nach, „Ich werde mein Bestes geben, um einen Schlüsseldienst zu finden, mehr als scheitern kann ich nicht.“
Also legte ich auf und durchforstete das Internet. Es gab auf der Insel
knapp ein Dutzend Schlüsseldienste. Die Hälfte hatte geschlossen, die
anderen telefonierte ich durch, erreichte aber natürlich niemanden, bis
ich zur letzten Möglichkeit kam. Diese Schicksalsfirma hatte eine
verheißungsvolle 24 im Namen und es hob tatsächlich jemand ab. Der Herr
wirkte nicht sonderlich begeistert und seine Laune verbesserte sich
nicht gerade, als er erfuhr, wo seine Reise hingehen sollte.
„Lohme? Zu dieser Zeit? Es ist 23 Uhr!“, blaffte er mich an.
„Ich weiß wie spät es ist. Ob sie es glauben oder nicht, ich bin im
Besitz einer Uhr“, ich überlegte mir, dass es strategisch nicht sehr
klug ist, so sarkastisch zu sein, immerhin hing Friedrichs Leben von dem
Kerl ab, aber ich konnte mich nicht zurückhalten.
„Aha, also ich kann einen Kollegen schicken, dauert 45 Minuten“
„Wirklich? Das ist ja großartig! Und was kostet das dann?“, fragte ich voller Freude.
„Na, mit 150 Euro müssen sie schon rechnen“, er überlegte kurz, „Es kann aber auch mehr werden“
„Von mir aus, schicken sie ihren Wunderknaben her, mein Angestellter
wird ihn mit offenen Armen empfangen.“, „Er erfriert nämlich gerade!“,
fügte ich hinzu.
„Ihr Angestellter? Sie sind also nicht persönlich da?“, fragte mein Hoffnungsträger misstrauisch.
„Nein, aber mein Angestellter wird sich ausweisen können und auch Geld haben, sobald die Tür offen ist“
„Er hat kein Geld bei sich, bevor die Tür offen ist?“, fragte der misstrauische Schlüsseldienstler.
„Nein, weil er sich ausgeschlossen hat“, es folgte eine kleine Pause,
in der mein Gesprächspartner die Logik dieses Umstands zu durchdringen
versuchte, offenbar mit Erfolg, denn er fuhr fort:
„Na gut, ich schicke meinen Kollegen, 45 Minuten, ab jetzt.“
Ich drehte mich zu meiner Frau um, freudestrahlend.
„Wir sind gerettet!“, ich rief sofort Friedrich an, der mittlerweile im
Auto saß – aus unerfindlichen Gründen, hatte er den Autoschlüssel in
den unergründlichen Weiten seiner Hosentasche gefunden. Sein Handy hatte
noch 22% Akku und der Wind heulte um den Peugeot herum, als würde sich
die Natur Rügens ärgern, einen fast sicher geglaubten Fang, Friedrich
meine ich, nun doch, im letzten Moment, verloren zu haben.
Und dann, knapp 30 Minuten später, rief der 24-Stunden-Schlüsseldienst an, um uns mit größtem Bedauern mitzuteilen, dass der einzige für Jasmund zuständige Mitarbeiter, bereits mit einem Bier vor der Glotze hing und heute nur noch den Verschluss, am BH seiner Freundin öffnen werde. Ok, so hat er es nicht gesagt, aber er würde nicht mehr vorbeikommen und basta!
Ich rief sogleich Friedrich an und wir grölten beide über diese neue Wendung. Und ob ihr es mir glaubt oder nicht, so hüpfte mein Herz vor Freude, als ich Friedrich so hörte. Denn es war der Beweis, dass er noch nicht vollständig erfroren war. Und das gab Grund zur Hoffnung. Oder?
Fortsetzung folgt