Es war einfach zum verrückt werden, ein Schicksalsschlag nach dem
anderen und jetzt sagt auch noch dieser dämliche Schlüsseldienst ab. Ich
lief im Wohnzimmer auf und ab und stieß alle möglichen Verwünschungen
aus. Da hockt dieser kleine, miese, gemeine Kerl, in seinem kleinen
miesen, gemeinen Büro und stieß mir seinen Dolch zwischen die Rippen –
in diesem Fall war es ein Dietrich, oder Friedrich, wie manche von euch
sagen würden. Aber gut, ich war auf diesen Kerl nicht angewiesen. Er
hatte mir zwar versichert, dass zu 96% (ja, er sagte tatsächlich 96%),
kein anderer Schlüsseldienst noch offen habe, aber was wusste dieser
Kerl schon? Ich stürzte mich also ins Internet und googelte so
hingebungsvoll, dass sogar Oskar Schindler, Mutter Theresa und Frodo
Beutlin Tränen der Rührung über die Wangen gekullert wären. So viel
reine, ehrliche Aufopferung musste doch belohnt werden, oder? Nein! Ich
fand noch drei weitere, mögliche Unternehmen. Eines saß in Binz, eines
in Bergen und eins in einem Kaff, dass ich vergessen habe. Überall ging
niemand ans Telefon, bis auf bei dem Kaff-Schlüsseldienst, dachte ich
jedenfalls, aber ich hatte mich nur verwählt.
„Du musst wohl
hinfahren und Friedrich die Tür öffnen“, meinte meine Verlobte
nachdenklich. Mit dem Blick, mit welchem ich sie bedachte, hätte man
eine Kaffeemaschine entkalken können – darauf hatte ich nun wirklich gar
keine Lust. Ich konnte nämlich nicht ins Auto steigen und losfahren,
ich habe keinen Führerschein – wegen dem Klimawandel, könnte ich sagen,
mache es aber nicht. In Berlin braucht man kein Auto und seit 2017 habe
ich einfach keine Gelegenheit gefunden, den Lappen zu bekommen –
hauptsächlich aus Faulheit und ein wenig Angst. Angst zu versagen? Nein!
Der Angst, dass, laut meinem Vater, jeder Idiot einen Führerschein
machen kann – und das merkt man leider fast jeden Tag, wenn man sich den
Verkehr ansieht.
Ich habe alles mit dem Fahrrad hinbekommen, geht
auch, nur leider nicht besonders gut. Ich redete mir zwar immer ein,
dass ein Auto reiner Luxus sei, aber nun zeigte mir die Realität den
Mittelfinger und der Mittelfinger war Friedrich, dieses Mal kein
gebogener Draht, sondern der Silvestermann, der gerade vollauf damit
beschäftigt war, in unserem Garten zu erfrieren. Ich Seufzte.
„Du
müsstest dann morgen um 3:00 Uhr losfahren und wärst dann um 7:48 Uhr in
Sagard“, meine Verlobte hatte bereits alle Vorkehrungen getroffen und
wartete nur darauf, das Ticket auszudrucken. Meine Zahn-OP lag erst
wenige Tage zurück, ich litt immer noch an Schmerzen und musste
Medikamente nehmen, in drei Tagen war Silvester und draußen regnete es –
ich war todmüde, genervt, hatte Hunger und war sauer: die besten
Voraussetzungen, für eine lustige Spritztour nach Rügen! Mein Herz
machte Luftsprünge – jedenfalls schlug es verdächtig schnell. Ich rief
Friedrich an.
„Hey, ich werde morgen nach Rügen fahren und dir den
Schlüssel bringen. Nimm dir ein Hotelzimmer, ok?“, ich versuchte ruhig
und gefasst zu klingen.
„Alles gut“, erwiderte Friedrich, „Ich habe
nicht genug Geld bei mir, um ein Hotelzimmer zu bezahlen. Ich werde im
Auto bleiben“
„Mensch Friedrich sei kein Frosch. Wir zahlen dir das
verdammte Hotelzimmer von Berlin aus, ich möchte nicht, dass du
erfrierst. Denn soviel steht fest, wenn ich jetzt nach Rügen fahre,
wirst du Silvester durchziehen, ob du nun tot bist, oder nicht!“
Doch Friedrich weigerte sich vehement in ein Hotel zu ziehen, er meinte,
dass er sich seine prekäre Lage selbst zuzuschreiben habe und durch
eine Nacht in klirrender Kälte, Buße tun wolle. Ich meinte, dass er
vollkommen bekloppt sei und forderte ihn auf, ja befahl ihn, seinen
Hintern in eine Herberge zu bewegen. Doch der Kerl blieb stur. „Alles
gut“, sagte er in einem Tonfall, wie sämtliche Buddhainkarnationen und
Obiwan Kinobi zusammen. „Ich komme schon klar“
„Dann schalte wenigstens die Standheizung ein“, sagte ich verzweifelt.
„Nein, das geht schon. Der Autoinnenraum ist so klein, dass ich ihn mit
meiner Körperwärme aufheizen kann“, sagte Friedrich entspannt.
„Glaubst du echt, dass das funktioniert?“, ich war skeptisch.
„Nein“, Friedrich lachte verschmitzt, „Mach dir nicht so viele Gedanken und komm her.“
Ich legte entnervt auf, jetzt spielte der Trottel auch noch den
Märtyrer, als wenn wir nicht schon genug Probleme hätten. Ich fluchte so
laut, dass unser Papagei laut zu krächzen begann. Ich brüllte „Ruhe!“,
was der Papagei zum Anlass nahm, noch lauter zu werden, das reinste
Irrenhaus.
Ich weiß nicht, wie ich die Nacht überstanden habe, aber
es war mittlerweile ohnehin schon 1 Uhr und somit blieben mir nur
lausige zwei Stunden. Ich fuhr zum Hauptbahnhof und setzte mich in den
Zug, der erfreulich leer war – bis eine mexikanische Großfamilie
einstieg und geschlagene drei Stunden Youtube guckte und dabei Uno
spielte. Das schrille Kreischen der Kleinsten, mischte sich mit dem der
Stimme der Mutter, die ein endloses Telefonat führte und nur ab und zu
eines ihrer Kinder anbrüllte. Weil das alles auf mexikanisch ablief,
verstand ich natürlich kein Wort – außer wenn eines der Kinder „Uno!“
brüllte und ein anderes, meist ein kleiner Junge, losheulte. Seit diesem
Tag hasse ich Uno.
Dann setzte sich eine Frau hinter mich, die
offenbar die Schwindsucht hatte. Sie zog geräuschvoll die Nase hoch,
immer wieder und ich fragte mich schon, wie groß ihre verdammte Nase
sein musste, als sie, nach etwas einer halben Stunde, auch noch zu
niesen anfing. Ich setze mich um und geriet vom Regen in die Traufe, als
ich gleich von einer ganzen Seniorengesellschaft, auf einem Viererplatz
eingekeilt wurde. Die ehrerbietigen Alten, auf deren Schultern die Last
der Jahrzehnte ruhte, lutschten sehr geräuschvoll Erkältungs-Bonbons
und unterhielten sich über Arthritis, offene Beine und tiefgekühlte
Fertiggerichte von Aldi – ich weiß zwar nicht, was die Hölle außer Lava
und glühenden Zangen noch so zu bieten hat, aber sie riecht ganz
bestimmt nach Eukalyptus.
Weil ich die Nacht nicht geschlafen hatte,
dämmerte ich schließlich ein, eine heilsame Ruhe breitete sich in mir
aus, für ganze fünf Sekunden. Dann riss mich ein begeistertes „UNO!“ aus
dem Halbschlummer und dann fing der Junge wieder an zu heulen.
Da
ich so spät von meiner Rügenreise erfahren hatte und sie so früh
antreten musste, hatte ich natürlich keine Zeit gefunden, mir etwas
ordentliches als Reiseproviant einzupacken – nichts ordentliches heißt
übersetzt: eine halbe Schachtel Butterkekse und eine Colaflasche mit
Wasser – doch die Flasche war ausgelaufen und hatte die Kekse in einen
unappetitlichen Brei verwandelt, daher verzichtete ich dankend auf mein
Frühstück und dachte mir, dass ich wenigstens etwas Schreiben könne.
Also holte ich meinen Laptop aus der Tasche. Muss ich erwähnen, dass der
Akku bei 5% war und das Ladekabel auf dem Wohnzimmertisch lag?
Ich kam in Stralsund an – mir war so verflucht kalt, das ich wieder an
Friedrich denken musste und das heiterte mich auf: es ging nicht nur mir
schlecht.
Meine Bahn kam, ich stieg ein, verbrachte die Fahrt wie
ein halbtoter, stieg in Sagard aus und setze mich, wie in Trance, zu
Friedrich ins Auto, der bereits auf dem gewartet hatte.
„Du lebst noch.“, sagte ich.
„Ja, ein wenig.“, Friedrich lächelte.
Wir sahen uns lange an. „Weißt du was?“, sagte ich dann. Friedrich grinste und schüttelte den Kopf.
„Ich weiß nicht, ob mein Schlüssel, den ich dabeihabe, ein
Hauptschlüssel ist. Wenn es kein Hauptschlüssel ist, kommen wir damit
auch nicht rein“, mir war dieser drollige, kleine Fakt in der Bahn
eingefallen. „Aber ich bin ganz cool“, fügte ich hinzu, „Wenn wir mit
diesem Schlüssel auch nicht reinkommen, habe ich einen Notfallplan!“
Friedrich wirkte erstaunt, „Welchen denn?“
„Ich trete die beschissene Tür ein!“
Dann trat Friedrich das Gaspedal durch und wir sausten davon.