Manchmal fällt einem die Decke auf den Kopf. Dann muss man
schnell handeln, bevor das kleine, ungute Gefühl fett wird und alles andere in
einem verdrängt. Die beste Kur für einen Berliner ist, in so einem Fall, ein Treibgang.
Man startet irgendwo und lässt sich von den sanften Wellen der Stadt treiben,
wie ein Stück Balsaholz, um immer weitere Irgendwos zu erreichen und alles, um
und in einem herum, zu vergessen. Daniel und ich trafen uns an der Schönhauser
Allee und liefen los, ohne vorher über die Richtung und das Ziel gesprochen zu
haben. Der Vorfrühling war herrlich, die Krokusse blühten zwischen den
Hundehaufen, wie leuchtende Sterne in einem Endzeitszenario. Alles roch so neu
und spannend, als wäre die Stadt ein druckfrischer Roman, den ich als
allererstes lesen durfte, vor allen anderen, hochexklusiv.
Die ersten Bäume streckten ihre Knospen hervor, um zu fühlen, ob es denn schon
warm genug sei, grün zu tragen. Eine dicke Fliege brummte an uns vorbei und
Daniel rief „Eine Biene!“ und machte ein so glückliches Gesicht, dass ich es
nicht über mich bringen könnte, ihm seine kindliche Freude zu rauben. Also
stimmte ich in den Ruf mit ein und wir sangen ein Bienenlied, ganz spontan und
ohne jedes melodische Feingefühl. Aber einige Passanten, die uns hörten,
mussten grinsen und ein Mädchen versuchte sogar mitzusingen. Ein kalter Wind
ließ uns erzittern. Wir waren noch mit dem Winter liiert, das wollte er uns
damit sagen. Und doch hatten wir bereits eine unschuldige Affäre mit der Sonne angefangen,
die uns die Wangen zärtlich streichelte. Die Straßen glitten an uns vorbei wie
Schlangen, die ihre Mäuler vergeblich nach uns reckten. Wir kauften uns etwas,
tranken etwas und zogen weiter. Die Zeit rauschte wie die Brandung zwischen den
Steinen und die Steine waren wir. Aber keine großen Felsen: Kiesel! Glattgeschliffen,
aber nicht rund, voller Makel, aber gerade deswegen perfekt. Zwei kleine Steine,
die nebeneinander durchs Leben rollen.
Auf einem Baum saß eine Amsel und rief uns zu:
„Uli Seibert veranstaltet ein Event!“
Daniel, der das hörte, meinte, dass wir dorthin gehen sollten. Und die Amsel
stimmte ihm lebhaft zu. Sie hüpfte auf ihrem Ast umher, als hätte sie die
Schwerkraft für sich allein außer Kraft gesetzt. Die Wolken rasten, schoben sich
am Himmel entlang, große Berge aus Zuckerguss, denen alles egal ist, was uns
hier so sehr beschäftigt.
„Ja“, sagte ich, „Lass uns Uli Seibel besuchen!“
„Seibert“, verbesserte mich Daniel.
„Seibalt?“, fragte ich nach.
„Ja“, Daniel, wollte nicht weiter über Namen reden. Namen sind für ihn nur
Worte, die man an Türen schreibt und Türen sind in seinen Augen der erste
Schritt in die falsche Richtung. Er sagte, dass ich mit diesem Uli bereits einmal
gesprochen habe, über Kunstkäufe oder so. Ich konnte mich dunkel an ihn
erinnern.
„Ein Mann mit weißem Haar?“, fragte ich.
„Ja“, sagte Daniel.
Unser Weg führte uns an einem Spielplatz vorbei, der plump im Schatten eines
Hauses lag, wie ein fetter, hässlicher Hund. Übervolle Mülltonnen lehnten sich träge
aneinander und ein Tierchen huschte über den Buddelkasten, um in der
Ligusterhecke Schutz zu suchen.
„Hast du gerade auch das Kaninchen gesehen?“, fragte ich Daniel entzückt.
„Das war eine Ratte“, antwortete er.
„Tu nur nicht so überlegen, ich habe die Fliege vorhin schließlich nicht für
eine Biene gehalten.“
Daniel warf mir einen vernichtenden Blick zu, jedenfalls versuchte er sich
darin. Wir schwiegen, dann lachte er, Daniel lacht immer. Wenn heute der dritte
Weltkrieg ausbricht und es morgen regnen soll, obwohl er doch an den Strand gehen
wollte, um Eis zu essen, Daniel würde lachen. Das Lachen gehört zu ihm dazu,
wie seine Rotation.
Nach vielen Stunden gelangten wir endlich zu einem Hauseingang.
„Hier ist es“, sagte Daniel schlicht.
„Du meinst die Wohnung von Uli Seifert?“
„Seibert. Und das ist nicht seine Wohnung. Es ist … sein Büro, glaube ich.“
„Verstehe. Wie heißt er noch mal mit Nachnamen?“
„SEI…, ach egal“, Daniel drückte einen Klingelknopf, ich drückte ebenfalls.
Oben erwartete uns, in schickem Dress, der Portier. Er begrüßte uns sehr lustig
und gut gelaunt. Ich dachte mir, dass das Event Spaß machen würde, wenn mir schon
der Portier so sympathisch war. Er begann Daniel auszufragen, wer ich sei,
warum wir eine Stunde zu früh gekommen waren, warum Daniel nicht auf die
Einladung reagiert habe und …
„Wer ist das?“, fragte er, auf mich deutend.
„Ich habe die Einladung nicht gelesen“, Daniel lachte und wand sich wie ein
Aal. „Und das ist Ben.“
Ungefähr zu diesem Zeitpunkt fiel mir auf, dass der Portier Uli Seibert in Person
war und da ich mir nicht vorstellen konnte, dass Uli Seibert nebenher und noch
dazu auf seinen eigenen Events, als Portier arbeiten würde, schloss mein
messerscharfer Verstand, dass er nicht der Portier war. Er war einfach nur Uli
Seibert.
„Also“, wandte sich eben dieser an mich. „Du hast natürlich unseren Podcast
gehört“
„Ja“, sagte ich, ohne eine Sekunde nachzudenken, „Jede Folge!“
Uli und Daniel starrten mich entsetzt an.
„Es gibt nur eine Folge“, sagte Uli, als würde er noch darüber nachdenken, an
welcher Stelle er hätte lachen sollen.
„Ja, natürlich“, beeilte ich mich zu sagen, „Und die habe ich gehört, komplett,
ich kenne sie auswendig, wie ein Gedicht. Da waren einige sehr gute Stellen
dabei. Sehr gut, wirklich.“
Uli glaubte mir zu Recht kein Wort. An der Stelle hatte ich bereits alle Sympathie
verspielt, die Schlacht war verloren, bevor sie richtig angefangen hatte. Ich
versuchte die Situation zu retten und mir ins Gedächtnis zu rufen, was ich über
diesen Herrn alles wusste – nicht genug, so viel stand fest. Also versuchte ich
zu improvisieren, eine Disziplin, die ich meisterhaft beherrsche. Ich spannte
die Muskeln meines Redegeniesixpacks an. Innerlich stand ich auf einem Berge,
vor dem epischen Panorama gewaltiger Blitze und eines aufgewühlten Ozeans. Die
Wellenriesen türmten sich auf, meine Augen schwammen in Feuer und ich sagte mit
gebieterischer Stimme, die noch von den Göttern auf dem fernen Olymp gehört
werden konnte:
„Hast du alle diese Bilder hier selbst gemalt?“
Uli sah mich fassungslos an, konnte gar nichts rausbringen, sein Mund klappte
auf und schloss wieder, sogar Daniel war angesichts dieser neuen Wendung
sprachlos.
„Ähm … Daniel, wer ist dieser Mensch? Wovon redet er? Warum hast du ihn mitgebracht?“
Ich begann zu schwitzen. Wenn ein Sieg nicht mehr realistisch ist, muss man
Schadensbegrenzung üben. Ich dachte nach, mein Kopf fühlte sich an, als wäre er
mit kochender Cola gefüllt.
„Ich muss mich entschuldigen“, leitete ich meinen geordneten Rückzug ein, „Eine
ernstgemeinte Frage, bitte.“
Uli fasst sich und nickte dann. Alles war wieder möglich. Ein Neuanfang. Als
hätte es die letzten 10 Minuten nicht gegeben.
Ich konzentrierte mich. „Welches deiner Bilder magst du am liebsten?“, frage
ich dann. Ich war nicht wenig stolz, solch eine einzigartige, intime Frage
gestellt zu haben, ein kleines rhetorisches Meisterwerk. Eine Träne der Rührung,
ob meiner eigenen, überragenden Leistung, dieses verloren geglaubte Gespräch zu
retten, staute sich in meinem rechten Auge, bereit, heiß wie thermische Quellen
auf Island, meine Wange zu netzen.
„Würdest du für mich arbeiten, würde ich dich jetzt entlassen. Was für eine saudämliche,
dumme Frage! Daniel! Warum bringst du mir so jemanden in mein Haus? Was ist nur
los mit dem?“
Daniel schwieg, aber sein Gesicht hatte die Farbe seiner Kleidung angenommen. Dann
wendete sich Uli wieder mir zu und atmete tief durch, als müsste er sich sehr
zusammennehmen.
„Nun gut, du möchtest also auch zu meinem Event kommen, obwohl du nicht auf der
Gästeliste stehst, den Podcast nicht gehört hast und dämliche Frage stellst“,
er betrachtete mich von oben bis unten und sein Gesichtsausdruck glich einem
halben Liter Milch, den man hinter dem Heizkörper vergessen hatte.
„Diese Hosen gehen gar nicht …“, flüstere er schließlich. „Und dieser Pullover …,
mein Gott, dieser Pullover …“, er schlug die Hände vors Gesicht. „Das geht absolut
gar nicht. Das geht nicht! Das Thema dieses Events ist B-U-N-T …, du bist nicht
bunt“, er schloss die Lider, versuchte sich zu beruhigen, projizierte mich vor
seinem geistigen Auge in die Schar seiner Gäste und das Ergebnis schien ihm
nicht besonders zu gefallen.
„Nein, nein … NEIN!“, rief er aus und hüpfte im Hausflur umher. „Komm‘ gerne wieder“,
sagte er zu Daniel, „aber der da darf nicht so aussehen, das geht wirklich gar
nicht.“
Als wir das Haus verlassen hatten, schwiegen wir lange.
„War das eine Ausladung?“, fragte Daniel schließlich.
„Keine Ahnung. Kaufen wir mir nun etwas Buntes, damit sich Uli Seibel ärgert?“,
fragte ich hoffnungsvoll.
„Auf jeden Fall!“, Daniel lachte wieder und sein Lachen war so ansteckend, dass
auch ich zu prusten begann.
Gut eine Stunde später standen wir wieder bei Uli auf der Matte, Daniel
unverändert rot, ich in einen kunterbunten Kimono gewandet, in dem ich fast
verloren ging. Der Gastgeber war hocherfreut und wir wurden von der Gesellschaft
mit offenen Armen empfangen.
Uli tauchte immer mal wieder in unserer Nähe auf, um jedem zu erzählen, wie
Scheiße ich anfangs aussah und dann doch noch die Kurve gekriegt habe – einer ungebügelten
Raupe gleich, die durch eine himmlische, eine ulische Methamorphose, in einen Schmetterling
verwandelt wurde.
„Er hat sich Mühe gegeben! Und ich mag Leute, die sich Mühe geben! Obwohl er natürlich
ein absoluter Fake ist“, sagte er jovial. Diese und andere Schmeicheleien
trafen mich wie kleine, gemeine Meteore einen Exoplaneten.
Aber der Abend war so spaßig, dass mich nichts und niemand
beleidigen konnte. Vor allem nicht dieser lustige Kunstsammler, der so randvoll
mit guter Laune, durch den Raum schwebte, ständig mit einem Glas Wein in der
Hand und mit allen scherzte und plauderte.
Die Farben meines bunten Kimonos leuchteten in den grellen Lichtern des Büros
und warfen verwegene Schatten, auf Fabia Mendozas Ohrringe, als wir über ihr
neues Buch sprachen. Die Zeit flatterte dahin, wie ein Schwarm Schmetterlinge
und meine Blicke streichelten die vielen Schinken, die an den Wänden prangten.
Jedes war für sich ausreichend. Jedes ein Fenster, in eine eigene kleine Welt.
Viele Gespräche, mit vielen Leuten schlossen sich an. Und während Daniel zum
34. Mal auf die Toilette ging, schwor ich mir, nie wieder nach dem
Lieblingsbild eines Sammlers zu fragen.