Das verirrte Kamel in Buschvitz (Geschichte)

Es war einmal vor langer Zeit auf Rügen, da lebte ein Kamel. Ihr sagt, dass ihr auf Rügen noch nie ein Kamel gesehen habt und ich sage, dass das auch kein Wunder ist, denn Kamele auf Rügen sind selten, fast so selten wie Einheimische, die sich an die Verkehrsegeln halten – nun, nicht ganz so selten. Doch damals gab es ein Kamel, das würden dir viele Inselbewohner bestätigen, wenn sie noch leben würden, was nicht der Fall ist, denn die Geschichte, ich sagte es schon, spielt vor langer Zeit.

Unser Kamel hatte sich ein wenig verirrt – man kennt das ja, gerade noch fährt man vom Büro nach Hause und schon befindet man sich 4.300 Kilometer entfernt, in einer kleinen Straße und versucht ein arabisches Straßenschild zu entziffern. Bei dem Kamel war es ähnlich gewesen, nur umgekehrt und es arbeitete natürlich in keinem Büro, das machen Kamele nur selten. Nein, es war mit einer Karawane unterwegs, von dort nach da und dämelte friedlich dahin. Doch dann nahm es die falsche Abzweigung, links statt rechts, und schon war das Unglück geschehen. Als das verirrte Tierchen schließlich in Buschvitz ankam, hätte es wohl seinen Fehler gleich erkannt, wenn es Lesen gelernt hätte. Aber da es aus einer armen Familie stammte und Bildung, selbst heute noch, unter Kamelen eher die Ausnahme darstellt, gaffte es nur etwas benommen auf das Ortseingangsschild. Lange stand es dort herum, wie ein Findling mit zwei Höckern, bis es ihm schließlich zu dumm wurde.
Der Sommer auf Rügen ist eine gute Sache, auch für Kamele. Es ist nicht so heißt wie in Vorderasien, es gibt mehr Wasser und viel mehr Grün – das Buffet ist an jedem Wegesrand reichlich gedeckt und Rügen bestand damals, wie heute, fast ausschließlich aus Wegesrändern. Also haute das Kamel ordentlich rein und vergaß darüber ganz, nach seiner Karawane Ausschau zu halten – vielleicht schwang auch etwas Absicht mit, denn eine Karawane ist eine mühselige Angelegenheit und das Kamel freute sich, endlich nichts mehr schleppen zu müssen. Und so agierte das ehemalige Lastentier, wie die meisten anderen Angestellten auch, die Angst haben, durch unnötige Fragen, den Chef zu wecken. Es wurde faul und träge und kümmerte sich nicht einen Deut um das Morgen. Wozu an die Zukunft denken, wenn es in der Gegenwart so viele leckere Brennnesseln gibt?
Die warme Jahreszeit ging über in den Herbst. Das Kamel wunderte sich einmal kurz, warum die Bäume plötzlich ihr Grün gegen leuchtend bunte Farben enttäuschten. Aber es kümmerte sich nicht weiter darum, denn es war noch nie modisch interessiert gewesen und wer 4.300 Kilometer falsch abbiegt und davon nichts bemerkt, hat ein verdammt dickes Fell was Sonderbarkeiten betifft, das müsst ihr zugeben.
Der Herbst verließ laubraschelnd die Insel und ihm folgte der Winter, mit seinem groben Eiskarren. Er rumpelte durch alle Dörfer und überrollte alles, was sich nicht vorbereitet hatte. Das Kamel fror bitterlich und als es, tollpatschig wie es nun mal war, kopfüber einen leichten Abhang hinunter purzelte und zur ersten Kamellawine wurde, die die Welt je gesehen hatte, da zählte es zwei und zwei zusammen und nach drei oder vier Fehladditionen, kam es zu einem Ergebnis, das ihm nicht gefiel und weithin vernahm man sein Wehgeschrei: „Dies hier ist nicht Bagdad!“
Der Winter auf Rügen ist hart und grausam. Der Wind peitscht einem um die Ohren und der Schnee türmt sich meterhoch. Alle Menschen und Tiere, die keine Vorräte angelegt haben, leiden großen Hunger. Und so erging es auch unserem Kamel.
Es wanderte hier hin und dorthin, aber alles Grün war verdorrt und bitter, alle Bäche zugefroren, alle Bäume nackt und kahl, wie die Köpfe einer Senioren Geburtstagsparty, nur gab es hier weder Torte noch Luftschlangen, nur Eis, faules Laub und winziges, frierendes Häuflein Unglück, mit zwei Höckern. Und wie sollte das Kamel seiner aussichtslosen Lage entkommen? Es hatte keinen Job, um Geld zu verdienen. Natürlich hätte es Politiker werden können, oder Deutschlehrer, da ist immer etwas frei, aber die Sprachbarriere war ein zu großes Hindernis. Und wie es noch über sein Leben grübelte, begegnete ihm, auf der Dorfstraße, ein armer Radieschenverkäufer. Dieser freundliche Agrarmensch, so wusste das Kamel sofort, würde die Lösung all seiner Probleme sein. Und noch bevor der Bauer ein Jobangebot machen konnte, denn Bauern suchen ständig nach starken Kamelen, die ihre Radieschen für sie tragen, schlug ihn das Kamel bewusstlos. Es raffte die Rübchen zusammen und verdünnisierte sich. Endlich konnte sich der Höckermann mal wieder richtig satt essen, was war das für ein Fest.
Doch sollte die festtägliche Idylle nicht lange währen, denn schon rüstete sich wenig später die Dorfmiliz, durchsuchte die Weite und Breite und nahm den rübenraubenden Übeltäter fest. Da wurde nicht lange gefackelt und das anberaumte Strafgericht verurteilte Thorsten, denn so hieß das Kamel, zum Tode durch das Beil. Später sollte aus ihm Suppe gekocht werden.
So saß denn das Kamel, hinter Schloss und Riegel und weinte zum Steinerweichen. Erst jetzt, wo ihm gewissermaßen schon die Schlinge um den Hals gelegt war, erkannte es seine Fehler und flehte das Schicksal um Gnade an. Vielleicht hatte jenes gerade einen guten Tag, oder vielleicht lag es an dem Umstand, dass Weihnachten vor der Tür stand, jedenfalls tauchte ein kleiner Junge vor dem Käfig auf. Er sei, so flüsterte er, ohne viel Umstand zu machen, ein großer Karl May Fan und liebe vor allem die Wüstenromane und daher natürlich auch die Kamele. Im Bewusstsein etwas sehr Gutes zu tun, befreite er Thorsten schließlich, zeigte ihm, in welche Richtung er Buschvitz verlassen musste, um nach Bagdad zurückzukehren und gab ihm noch ein Fischbrötchen, als Wegzehrung mit.

Nach vielen Monaten des Wanderns und Schwimmens, vielen Abenteuern und großer Mühsal, gelangte das Kamel zurück, in sein Heimatland. Dort wurde es Öl-Millionär und sendete dem kleinen Jungen, seinen Lebensretter, fortan goldene Schnüre, die der Knirps, zum Andenken, an einen Tannenbaum hing. Und aus dieser, eher unscheinbaren Geste der Dankbarkeit, ist der Lamettabrauch entstanden.

Denkt doch das nächste Mal, wenn ihr euren Weihnachtsbaum schmückt, an Thorsten und lest unbedingt Karl May, es lohnt sich!

Es ist von seiner Karawane ausgerissen, um nach Begdad zu gelangen – oder wo Kamele auch immer herkommen. Also stiefelte es los, bog an der Ecke falsch ab und landete, nach einige weiteren Fehlinterpreationen der innerlichen Landkarte, die Tieren von Natur aus innewohnt, schließlich in Buschvitz.

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