Eigentlich ist es nicht der Rede wert, aber wir wollen es dennoch nicht im Verborgenen lassen: eine kleine Krabbe, die niemals das Salz der Ostsee geschmeckt hatte, bekam eines Tages unendliche Sehnsucht nach ihr. Wie ein Kind, das seine leibliche Mutter nicht kennt und eine undefinierbare Leere in seinem Herzen spürt. Und so erging es der kleinen Stoffkrabbe, die bisher sehr glücklich in ihrem Bett lag, oben in Rugeshus, mitten in den Wäldern Jasmunds.
Stoffkrabben sind in der Regel wohl behütet, sie kennen weder Kälte noch Regen, jede Form der Entbehrung ist ihnen fremd – kein Wunder mögt ihr sagen, schließlich sind sie aus Stoff, keine echten Krabben, nur Baumwolle und Plüsch. Doch in jedem Tierchen das geliebt wird, steckt auch eine kleine Seele und jede Seele kann Schmerzen empfinden – Schmerzen und Sehnsucht. Und als einmal eine Möwe am Fenster des Schlafzimmers vorbeiflog und von der Ostsee sang – denn Möwen sind vortreffliche Sänger, das weiß jeder – bohrte dieses Lied ein Loch in das kleine Krabbenherz und ein Kribbeln in den Scheren breitete sich aus, ihr kennt das bestimmt. Man musste darüber mit den anderen Bewohnern des Zimmers sprechen: mit dem etwas naiven Holzhuhn, dem lustigen kleinen Affen im Regel und dem alten und weisen Bären, der neben den ganzen Aktenordnern saß und vermutlich gerade deshalb so weise war. Alle waren die Freunde der Krabbe. Sie redeten oft miteinander und hatten jede Menge Spaß. Eigentlich war die Krabbe bis jetzt vollkommen glücklich gewesen, doch nun nagte die Ungeduld an ihr. Und alle ihre Freunde sagten das Gleiche:
„Folge deinem Herzen. Doch vergiss nicht, was am wertvollsten ist!“
Die kleine Krabbe hörte kaum hin, noch konnte sie sich auf diesen letzten Rat einen Reim machen. Die Ostsee, die salzige, bernsteinglitzernde, geheimnisvolle Ostsee verdrängt jeden klaren Gedanken in ihr und ließ sie ganz schwach werden.
Und so war die Krabbe aufgebrochen, ab durch die Mitte, war sie gekrabbelt, bei Vollmond, dann wenn alle kleinen Tierchen, die wir für leblos halten, voller Leben sind – auf Rügen sogar häufiger. Doch je heller der Mond scheint, desto mehr Kraft verspüren sie. Durch den verwilderten Garten ging es, vorbei an den großen Holunderbüschen. Umgeben von angenehm kühler Nachtluft – den Kopf gefüllt mit Erwartungen, völlig unglaublichen, unbeschreiblichen Ideen – die Beine voller Baumwolle, die heute zu jucken schien – so aufgeregt war der kleine Scherenmann. Auf dem Weg zum Ufer wimmelte es vor Motten, Käfern, Fledermäusen, normalen Mäusen, Mäusen mit Streifen auf dem Rücken und Mäuse ohne Streifen – Würmern, die nachdenklich aus ihren Erdbehausungen spähten, Eulen, einem Fuchs und unzähligen Schatten, die sich hinter Steinen und Stümpfen breitgemacht hatten, als wäre heute Sonntag und morgen Ferienbeginn.
Schon schimmerte das Wasser durch die Zweige der Buchen, die wie schwarze Statuen vor, um, hinter und überall sonst standen, ihn anzustarren schienen, sodass sich unsere kleine Krabbe noch viel kleiner vorkam. Und dann war es endlich geschafft, die Ostsee lag vor ihren Beinchen und der Mond spiegelte sich majestätisch darin, wie ein Spiegel im Spiegel. Von rechts bog sich das schwarze Ufer, wie aus Pappe geschnitten und mündete bei Kap Arkona, dessen Leuchtturm beruhigend blinkte. Das Wasser funkelte wie schwarzes, flüssiges Silber, Wellenkinder spielten verträumt mit den Ufersteinchen, der Wind schlief bereits. Die kleine Stoffkrabbe starrte in die Ferne, über dieses weite, dunkle Feld aus Wasser und traute sich kaum eine Schere zu rühren. Denn jede Bewegung hätte den Zauber brechen können, der sie umgab, diese hauchdünne, zarte Atmosphäre, feiner und zerbrechlicher als das dünnste Eis. Diese erhabene Stille durfte nicht gestört werden, in der selbst die Natur den Atem angehalten zu haben schien. Die kleine Krabbe dachte nun darüber nach wie es wohl wäre, sich von der hier ausgebreiteten kristallinen Nacht verschlingen zu lassen – dann könnte sie eine echte Krabbe werden und unter ihresgleichen leben. Dann wäre sie keine kleine Stoffkrabbe mehr, dann könnte sie alles zurücklassen, ein neues, spannendes Leben beginnen. Doch im gleichen Moment dachte sie an den kleinen Affen, das Holzhuhn, den weisen Bären und nicht zuletzt an Benni. Benni, wie könnte sie Benni vergessen? Sie war sein Geschenk, ihm verdankte sie ihre Seele. Vielleicht war er nicht ihr echter Vater, aber die Krabbe genoss es immer, wenn sie bei ihm schlafen durfte, seine Liebe spüren konnte. Ihr fielen die Worte ihrer Freunde ein:
„Folge deinem Herzen. Doch vergiss nicht, was am wertvollsten ist!“
Doch gerade als sie zu begreifen begann, was es mit diesem Rat auf sich hatte, was tatsächlich das Wertvollste in ihrem kleinen Krabbenleben war, wurde es hell, der Morgen war angebrochen. Und die Krabbe erstarrte, denn auch wenn sie auf Rügen nicht nur an Vollmonden umherkrabbeln konnte, am Tage war es ihr nicht möglich – dann wurde sie wieder zu einer ganz normalen Stoffkrabbe. Doch das Verhängnisvolle war, dass Tierchen nur dann lebendig werden, wenn sie zu Hause sind, hier draußen aber würde sie liegen bleiben – bei Tag und bei Nacht.
Und der letzte Gedanke, der unserer Stoffkrabbe durch den Kopf schoss war ein tieftrauriges Bedauern, dass sie über ihre Sehnsucht ihr Zuhause verraten und nun alles verloren hatte, was ihr lieb und teuer war. Nun würde sie hierbleiben müssen. Vielleicht würde sie jemand finden und mittnehmen, oder die Wellen würden sie verschlingen und verdauen und vergessen machen. Das wäre alles nicht so schlimm, aber dass sie Benni nicht mehr wiedersehen würde, ließ der kleinen Stoffkrabbe das Herz so schwer werden, dass es weh tat.
Und genau in diesem Moment setzte sich jemand neben sie, betrachtete die Wellen und atmete tief ein. „Ich verstehe dich, du sehnst dich nach der See“, sagte ein Mann. Er war vielleicht Mitte 30, trug kurze Hosen und einen breitkrempigen Hut, mit grünen Papageienfedern. „Du sehnst dich nach ihr, aber kannst sie nicht erreichen, oder willst sie nicht erreichen“, er seufzte, „ich sehne mich nach Mama, weißt du? Ich möchte ihr sagen, dass sie sich keine Sorgen machen muss. Aber sie ist so weit für mich entfernt, wie die See für dich – kaum vier Meter, aber trotzdem unerreichbar. Das Leben steht zwischen uns: wie eine Mauer aus roten Gladiolen. Wunderschön, aber undurchdringlich“, er lachte kurz trocken auf, „keine Angst, ich werde mich nicht von einer Klippe stürzen, dann wäre sie sauer auf mich. Und es gäbe zu viele, die mich vermissen würden. Ich wollte nur damit sagen, dass ich zwar weiß, was uns beide trennt und trotzdem nicht fortgehe. Das Sterben läuft mir ja nicht weg, irgendwann ist es bei jedem soweit und dann ist es gut zu wissen, dass da jemand auf der anderen Seite wartet und einen von der Bushaltestelle abholt.
Aber ich vermisse sie, jeden Tag. Sie hätte dich gemocht, weißt du? Darum bist du auch bei mir. Manchmal ist es schwer, wenn jemand nicht mehr da ist, oder man sich nach etwas sehnt, leicht vergisst man, was das Wertvollste ist. Bei mir ist es meine Familie. Doch manchmal verliert man das Wertvollste aus den Augen, weil man trauert, weil man fortgehen möchte. Dann ist alles dunkel, man kann nichts mehr sehn, verirrt sich und verschwindet. Doch manchmal kommt jemand mit einer Taschenlampe und man ist gerettet.“, dann stand Benni auf, nahm die Krabbe behutsam auf den Arm und ging mit ihr nach Hause.