Friedrich Lüttgrien – Schachmatt in zwei Zügen (Teil 1)

Friedrich Lüttgriens erster Fall (Kapitel 1)

Es war Abend und dunkel und kalt und ich hatte miese Laune. Der Ofen im Salon brannte zwar, konnte aber die Zimmertemperatur nicht über 10 Grad bringen. Vermutlich lag das an dem kaputten Fenster, durch das, trotz all meiner Bemühungen, der Wind heulte. Wie es dazu kam? Das Kind aus Zimmer 6 hatte einen Schneeball dagegen geworfen, leider war jener verhängnisvolle Schneeball kein Schneeball, sondern ein weißer Feuerstein. Meiner Meinung nach sollten Kinder wissen, worin der Unterschied zwischen einem Stück Erdgeschichte und einem Ball aus Wassereis besteht. Sie sollten solche Feinheiten in der Schule lernen. Da sieht man doch mal wieder, wie verkorkst das deutsche Schulsystem ist. Man kann den kleinen Rackern nicht die Schuld an ihren Untaten geben, Deutschland hat sie zu dem gemacht, was sie sind: feuersteinwerfende Fensterzerstörer. Die Politiker können es vielleicht verschweigen, doch jene zerbrochene Scheibe in Rugeshus, schreit die Wahrheit in die frostig kalte Nacht hinaus.

Es war der 23. Januar 2010 und der Winter gab sich große Mühe, allen Klimaaktivisten den Mittelfinger zu zeigen. Petrus hatte offenbar Glück mit seinem Schneelieferanten gehabt, jedenfalls rieselte es ohne Unterlass und bald schon waren die vielen kleinen Dorfstraßen, der vielen kleinen Dörfer, der vielen kleinen Gemeinden Rügens ganz und gar unter den weißen Massen begraben. Einige Anwohner wehrten sich nach Kräften, aber ihre mickrigen Versuche, mit Schneeschaufeln gegen eine Naturgewalt anzurennen, brachten nicht viel ein. Bald schon wurden die Waffen gestreckt und Väterchen Frost konnte seinen Siegeszug, ungehindert fortsetzen.
Rugeshus, unsere kleine Pension, war eingeschneit und auf Rügen bedeutet „eingeschneit“ nicht etwa, dass Schnee liegt und alle Welt zum Rodeln nach draußen rennt. Nein. Wer auf Rügen eingeschneit ist, bekommt mit viel Glück die Haustür auf, ist aber ansonsten zur Untätigkeit verdammt. Man sitzt im Haus herum, oder läuft zur nächsten Straße, um die Tiefe der Schneewehen auszuloten – in der Regel lautet das Urteil: verdammt tief. Und den Wald darf man im Regelfall auch nicht betreten, weil die Bäume unter der Schneelast zusammenbrechen können – ein kribbliger Spaß für alle, die im Wald wohnen, so wie ich. Auf Rügen halten sich die Einheimischen nicht mit romantischen Umschreibungen, für solch ein Naturphänomen auf, sie sagen es mit der Zunge ihrer Vorfahren: Schietwetter!! Und glaubt mir, Rüganer, die die Fröhlichkeit nicht gerade mit Löffeln gefressen haben, können selbst harmlose Schimpfwörter so böse nuscheln, dass es einem Angst macht. Und sie betonen jedes Ausrufezeichen extra, meist in verschiedenen Tonlagen der Übellaunigkeit.

Ich war also eingeschneit und das passte mir gar nicht. Für Touristen mag so ein Erlebnis lustig sein, vielleicht sogar romantisch, aber vertraut mir: Abenteuer verlieren schnell an Reiz, wenn man friert und nichts zu essen hat. Genauso verhält es sich mit Tigern. Man beobachtet sie gerne und Kinder bewerfen sie mit Popcorn. Sobald sie aber ein Loch im Zaun finden, sucht man sich schnell eine andere Attraktion. Der Brenner der Heizung war natürlich mal wieder ausgefallen, das gehörte zum guten Ton. Die Heizung machte immer dann Probleme, wenn man sie am meisten brauchte – also praktisch immer, denn heißes Wasser ist sogar im Sommer beliebt – wider allen Legenden bade ich nicht in der Ostsee, wenn ich mich waschen möchte, nun, jedenfalls nicht immer. Ich kratzte mich am Kopf, dieses Mal war ohne Zweifel ich schuld, denn der Öltank war leer. Allerdings hatten wir keinen Ölstandmesser und somit war es überaus schwer festzustellen, wann ein Nachfüllen sinnvoll war. Andererseits hätte ich einen solchen Füllanzeiger längst einbauen können, was ich aber nicht getan habe – aus dem gleichen Grund, warum die meisten Pläne nicht umgesetzt werden: Faulheit. Und jetzt musste ich meiner Mutter diese Nachricht beichten. Und sie würde mir Vorwürfe machen und das aus gutem Grund und vollkommen gerechtfertigt. Denn ich war eine Art Hausmeister in Rugeshus, ein Mädchen für alles. Ich musste den Gästen Frühstück machen, das Café führen, die Zimmer reinigen, das Personal überwachen und neben vieler anderer Aktivitäten, auch den Brenner in Gang halten. Und jetzt war die Hirschlosung am Dampfen und ich musste mich den Konsequenzen stellen. Und solange ich eingeschneit war, konnte ich die Sache nicht einmal vertuschen, denn wie sollte mich der LKW erreichen? Aber musste ich das tun? Es war in jedem Fall einfacher, dem Brenner die Schuld in die Schuhe zu schieben. Denn einerseits konnte er sich nicht wehren, was gut war und zweitens war er schon sehr häufig wegen technischer Probleme ausgefallen, also vorbelastet, was noch besser war. Warum sollte ich also, so fragte ich mich, meinen Kopf für ein Versäumnis hinhalten, wenn doch ein alter Motor im Keller so ein prima Sündenbock darstellte?

Als ich noch meinen Gedanken nachhing, klopfte es an der Tür – das war seltsam, denn alle Gäste waren auf ihren Zimmern. Es war kein lautes, oder energisches Bummern, wie man es während eines Schneesturms, in einem Haus, mitten Wald erwarten würde und wie es die Tradition der Horrorliteratur vorschreibt – dieses Klopfen war sachte, fast unterwürfig, viel zu nett für meinen Geschmack. Als würde der liebe Nachbar, dem beim Backen der Zucker ausgegangen war, nachfragen wollen, ob ich ihm nicht mit einem Schüsselchen desselben aufhelfen könnte. Ich näherte mich der Tür, langsam und vorsichtig, wie ein Ninja. Durch die Milchglasscheiben konnte ich nur einen dunklen Schatten erkennen. Das Klopfen hatte aufgehört, der Schatten verharrte. „Wer ist dort?“, fragte ich so fest und energisch, wie ich nur konnte. Und die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. „Guten Abend“, tönte es freundlich und gelassen, „Dürfte ich mich bei ihnen etwas aufwärmen?“ Ich überlegte kurz, die Stimme klang nicht nach einem Massenmörder. Aber ich war natürlich gebildet und wusste, dass sich ein Massenmörder nicht wie Massenmörder anhört. Demnach klang dieser freundliche Fremde wie ein Massenmörder, weil er eben nicht wie einer klang: QED. Mein Gehirn verknotete sich und ich öffnete die Tür. Draußen stand ein mittelgroßer Mann in schwarzem Trenchcoat. Er war für minus 8 Grad eindeutig zu frisch angezogen – vielleicht war er doch ein Irrer. Aber er lächelte aufmunternd und so machte ich eine einladende Handbewegung und ließ ihn eintreten. „Danke, sehr verbunden“, sagte der Fremde beim Eintreten, „Mein Name ist Lüttgrien“ fügte er hinzu und sah mich erwartungsvoll an. „Benjamin“, sagte ich schließlich, auf Rügen duzt man sich, selbst wenn man nicht den Vornamen von jemanden kennt, Rüganer sind da nicht anspruchsvoll. „Möchtest du einen Tee haben? Oder gehst du vorher nochmal schnell an den Strand, eine Runde schwimmen?“, Herr Lüttgrien überhörte die Spitze und grinste. „Ein Kaffee wäre großartig!“ er strahlte, „Soll ich dir bei etwas helfen?“

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