Ich schreckte hoch, als mich jemand, sanft aber energisch, auf die Schulter klopfte. Ich sah verschlafen nach rechts, aus einem ziemlich großen Fenster. Krähen hüpften auf einem braunen, nebligen Feld herum, das an mir vorbeiraste. Dann schweifte mein Blick über einen kleinen Tisch, wanderte über Sitzpolster und blieb schließlich an einer dunkelblauen Hose kleben. Die Hose stand direkt vor mir. Ich kratzte mich am Kopf, wo war ich? Dann fiel es mir ein und ich sah ruckartig nach oben, in das Gesicht, des Hosenbesitzers – des Schaffners und der Schaffner starrte, nicht gerade aufmunternd, zurück. „Haben Sie nun einen Fahrschein, oder nicht?“, grummelte er mich an, nein, grummelte sie mich an. Der Schaffner war, bei genauerer Betrachtung, eine Schaffnerin. Ich wühlte in den unergründlichen Weiten meiner Tasche und förderte das für eine Bahnreise so wichtige Dokument hervor. Die finstere Matrone nahm es an sich und verlangte meinen Ausweis – einfach aus purer Bosheit – so kam es mir jedenfalls vor. Sie verglich meine Unterschriften sehr genau. „Heute lasse ich das mal gelten“, ranzte sie, als gäbe es etwas zu beanstanden, was es natürlich nicht gab. Vielleicht wollte sie auch lustig erscheinen, aber solche Leute haben das Prinzip von Humor einfach nicht verstanden. Ich hätte gestern nicht so viel Wein trinken sollen, schoss es mir durch den Kopf. Mir war schwindelig, das Denken fiel mir schwer, also noch schwerer als sonst. Ich kramte mein Handy hervor – ah, Friedrich hatte sich gemeldet. Offenbar war er einkaufen gewesen, oder so. Er schrieb, dass ich doch, sobald ich in Berlin, im warmen Wasser eines Bades liege, doch seiner gedenken solle, wie er, vor Kälte zusammengeschrumpelt, in seinem Kämmerchen bibbere. Und die Gäste auch und die Hunde auch und der ganze Rest auch. Vermutlich bedeutete das, dass ich mich gefälligst beeilen sollte, eine Öllieferung zu bekommen. Oder er wollte lustig erscheinen.
Ich überspringe mal die weitere Fahrt. Alles ging glatt, mehr oder
weniger und ich kam in Berlin an. Die Stadt empfing mich mit ihrem ganz
eigenen Zauber: es war kalt, windig, dunkel und von Menschen überfüllt.
Der Bahnsteig war schmutzig und es stank – gleich nach dem Aussteigen
rempelte mich jemand an. In Zeiten wie diesen, muss man sein Schicksal
poetisch sehen: die Luft war geschwängert vom Duft der Metropole. Ein,
erquicklicher Nieselregen fiel hernieder und benetzte mein leidgeprüftes
Haupt – ich hasse solche halbgaren Winterwetter, als habe der Himmel
noch nicht gelernt, wie man es richtig krachen lässt. Ich verlange ja
nicht einmal Schnee, aber wenn es schon Niederschlag gibt, dann doch
bitte richtig und nicht so einen Wischiwaschiregen, der noch dazu nass
und eklig ist. Nieselregel ist wie eine Langhaarbarbiepuppe, gegen einen
echten Friseur, nur weniger pink.
Zuhause angekommen duschte ich
heiß und gedachte des armen Friedrichs, in Rugeshus – er wollte es so
und er daher tat ich ihm den Gefallen. Und ich muss sagen, dass es viel
mehr Spaß macht heiß zu duschen, wenn man dabei an jemanden denkt, der
gerade frieren muss. Das ist möglicherweise fies und gemein, aber eine
Tatsache, probiert es selbst mal aus!
Als ich die Insel verließ,
war Friedrich nicht müßig gewesen. Nach seinem Einkauf und der
rührseligen SMS, die er mir schrieb, war er schnurstracks zu Rugeshus
gefahren, um im Wald nach Feuerholz zu suchen. Am Tag zuvor hatten die
Dame aus Zimmer 6, Friedrich und ich ein Gespräch über die Tiere Rügens –
es ging dabei auch um die Frage, vor welchen man sich lieber hüten
sollte. Und ich betonte, dass Wildschweine zwar nicht ohne seien, aber
Hirsche wohl mehr Menschen auf dem Gewissen hätten. Allerdings sei der
Hirsch nicht das schlimmste Übel, dem man auf Rügen begegnen könne,
führte ich weiter aus. Es gäbe hier noch gemeinere Wesen, die aus ihren
Höhlen kriechen, wenn die Schatten länger werden. Niemand kennt sie
beim Namen, aber manche haben sie schon gesehen, oder erahnt. So auch
meine Mutter, als sie mit dem Paulinehund, nachts spazieren ging. Ihre
Taschenlampe begann zu flackern und erlosch schließlich ganz. Sie konnte
kaum noch etwas sehen, aber neben ihr im Wald, wo die Schatten dunkler
waren, spürte sie die Anwesenheit eines großen Etwas. Pauline, die ihr
Frauchen ansonsten immer verteidigt hatte, begann plötzlich zu winseln
und zurückzuweichen. Und dann, wie auf ein verabredetes Zeichen, rannten
beide, wie von der Tarantel gestochen davon. Bis heute weiß niemand,
was da im Dunkeln gelauert hat.
Vermutlich sollte ich diese Sachen
weniger dramatisch schildern, weil sich sonst kein Gast mehr zu uns
wagt. Aber vielleicht gehört die Furcht, vor den menschenfressenden
Hirschen auch zu Rugeshus dazu, genauso wie die ständige Angst, von
einem Baum erschlagen zu werden, oder die Nachbarn nackt am Strand zu
sehen.
Und trotz dieses Wissens, machte sich Friedrich auf, um im
Wald Brennholz zu sammeln. Dies tat er nicht aus Eigennutz – wie wir
wissen, braucht Friedrich, außer harten Brotrinden und einer kargen
Bettstatt, nichts um glücklich zu sein. Er sammelte Brennholz, im
Dienste der Pension, zum Wohle der Gäste, zur Erhaltung des Hauses!
Und als er fröhlich Äste aufklaubte, hörte er hinter sich ein Geräusch.
Es dämmerte bereits und die Buchen dräuten in den letzten Strahlen,
eines diesigen Wintertages. Langsam drehte sich Friedrich um. Wenige
Meter vor ihm, stand ein gewaltiger Hirsch, König des Waldes – seine
Krone ragte hoch auf und sah sehr spitz aus. Friedrich schossen meine
Warnungen durch den Kopf. Er gedachte der vielen Menschen, die bereits
„geweiht“ wurden. Doch der Gedanke an Gefahr verblasste rasch wieder.
Ein Lächeln erschien auf seinem Gesicht, als er sich vorstellte, wir
toll es doch wäre, auf so einem Vieh zu reiten. Daher setzte er einen
Fuß vor den anderen und nährte sich dem majestätischen Tier. Hoheit
beliebte es nicht, Friedrich eine Audienz zu gewähren. Hoheit spürte
jedoch eine seltsame Vertrautheit, als er den jungen Recken betrachtete
und wollte ihn daher, ganz gegen seine Natur, nicht aufspießen. Der
Hirsch war natürlich der positiven Aura Friedrichs erlegen, genau wie
jedes andere Lebewesen, das sich ihm auf zehn Schritte nährt.
Da
seine Durchlaucht aber sehen konnte, das Friedrich kein Futter bei sich
trug, beliebte es ihm, den Heimweg anzutreten und er sprang davon.
Friedrich, ein wenig enttäuscht, aber dafür noch am Leben, fand, als er
die Umgebung absuchte, bald die Kuhle des Hirschs. Als er mir von dem
Vorfall berichtete, sagte er fröhlich: „Wenn ich mich das nächste Mal
ausschließe, kann ich in der Hirschkuhle eine warme Nacht verbringen.“ –
da wir telefonierten, konnte er meinen Gesichtsausdruck nicht sehen,
aber ihr könnt ihn euch sicherlich vorstellen. Der Kerl meint das alles
ernst, da bin ich mir sicher.
Nach dieser Denkwürdigen Konfrontation
von Mensch und Natur, gab es eigentlich nicht mehr viel, das ich
erzählen könnte. Ich schaffte es, nach langen Telefonaten, das Öl zu
bestellen. Zimmer 8 und der Öltanker standen beide gleichzeitig vor der
Tür und Friedrich, der versuchte, an allen Orten gleichzeitig zu sein,
stolperte über den Fußabstreifer und stürzte schwer auf sein Knie.
Er rief mich an, schilderte mir das Szenario in einem so gleichmütigen,
ja freudigen Ton, dass ich erst dachte, dass er im Lotto gewonnen hatte –
keinen Sechser, aber irgendwas darunter. Jedenfalls erwartete ich
nicht, dass er mit zerfetzter Jeans und einer üblen Platzwunde, blutend
im Hausflur lag. Der Grund für seinen Anruf? Er konnte keine Pflaster
finden, um den Blutstrom, der beträchtlich war, zu stoppen und ich
konnte ihm leider auch nicht helfen. Denn da wo ich den Sanikasten
vermutete, war er nicht. Und wollte Friedrich einen Arzt kontaktieren
und sich gar eine Tetanusspritze geben lassen, da er keinen bestehenden
Impfschutz hatte? Na? Ich antworte darauf gar nicht erst.
„Dann
müssen eben Küchentücher und Kreppband reichen“, sprachs und legte auf,
gab mir nicht mal die Gelegenheit „Was?“, oder „Hä?“, zu sagen. Und weil
Friedrich nie scherzt, praktisch Kälte-, Schmerz- und Erschöpfungsimmun
ist, zog er Silvester, trotz seiner Verletzung durch und ihm zuckte
nicht mal eine Wimper. Hätte man den Burschen vor 2000 Jahren an ein
Kreuz genagelt, hätte er dennoch versucht, den Römern Kaffee zu kochen –
da bin ich mir sicher.
Als das Öl abgefüllt wurde und der nette
Techniker vorbeikam, konnte er den Schaden am Brenner reparieren und die
Heizung sprang wieder an! Die restlichen Gäste erschienen, sogar die
Dame aus Zimmer 6, als sie hörte, dass Rugeshus, durch eine
funktionstüchtige Heizung, wieder Teil der moderneren Zivilisation war.
Friedrich konnte mit ihnen ein beschauliches, geniales und absolut
einzigartiges Silvesterfest feiern, ohne Raketen und alles – dafür mit
einem warmen, prasselnden Feuer im Ofen und jeder Menge Spaß.
Man
erzählte sich Geschichten, aß und trank nach Herzenslust, denn Friedrich
hatte aufgefahren, was Küche und Keller vermochten. Und weil in
Rugeshus die Uhren anders ticken, hatte die kleine Gesellschaft
natürlich auch einen ganz eigenen Jahresend-Countdown, an dessen
Höhepunkt sie jubelnd mit Sekt anstießen und das neue Jahr begrüßten.
Die Hunde bekamen übrigens keinen Sekt, denn sie haben fast den ganzen
Abend verschlafen – ein Zeichen dafür, dass sich alle Gäste an das
Knallverbot gehalten hatten.
Damit endet diese Geschichte. Ich hoffe ihr hattet Spaß beim Lesen und wartet bereits auf das nächste Epos, das ich euch bald erzählen werde.