Friedrich Lüttgrien – Schachmatt in zwei Zügen (Teil 3)

Im Salon angekommen empfing mich eine ungewohnte Wärme. Mein emsiger Gast hantierte am Ofen herum, wobei er die Souveränität eines Orientzugheizers an den Tag legte. „Ich habe die Luftzufuhr um etwa 27% verringert, wodurch sich die Energieeffizienz drastisch erhöht hat“, dozierte Lüttgrien.

„Die… Energieeffizienz erhöht…“, stammelte ich. „Du heizt nun nicht mehr den Wald, sondern das Zimmer“, übersetzte Professor Lüttgrien für mich. „Ich habe auch einen Ofen und weiß daher, dass man schnell etwas falsch einstellt“, fügte er hinzu. Ich betrachtete die Hebel missmutig, „Ich glaube, dass das den Kohl auch nicht fett macht“, erwiderte ich trotzig, auch wenn mich die deutlich spürbare Wärme Lügen strafte. „Alles gut“, betonte Lüttgrien freundlich, setzte sich an einen Tisch und nippte an seinem Kaffee. „Oh man, das habe ich gebraucht“, seufzte er und nahm noch einen kleinen Schluck. „Und jetzt sollte ich dir wohl erzählen, wie es mich hierher verschlagen hat“. „Also“, begann Lüttgrien, während er seine Brille zurechtrückte und an einem Stück Stuhlbeinbrot knabberte, „ich wohne eigentlich in Wanzleben, schon mal davon gehört?“, ich schüttelte den Kopf, „Das liegt zwischen Bottmersdorf und Domersleben“. „Ah!“, rief ich sarkastisch aus, „Das Wanzleben! Das zwischen Botteldorf und Dommelsleben liegt, natürlich!“, Lüttgrien schien den Spott zu überhören, „Ich bin bisher niemanden begegnet, dem mein Nest etwas sagt – meine Frage war daher nicht ganz ernst gemeint. Wanzleben ist winzig und gleich nebenan liegt Magdeburg, wodurch es noch ein wenig kleiner wirkt – Wanzleben, nicht Magdeburg, falls du mir folgen kannst“, er lachte. „Jedenfalls hatte ich einen Auftrag bekommen, der mich nach Rügen führte. Der Auftraggeber sitzt in Lietzow – also packte ich meine sieben Sachen, sagte meiner Tante, dass sie sich um Helmut Kohl kümmern soll und schon saß ich in meiner Ente, auf zu neuen Ufern. Das war vor gut zwei Wochen, als Rügen noch nicht eingeschneit war, jedenfalls nicht so, wie jetzt. Ich fuhr also dahin, optimierte mal hier ein wenig und programmierte mal dort herum und so verstrichen die Tage. Mein Hotelzimmer hatte ich mir in Lohme gebucht. Im Nachhinein betrachtet war das vielleicht unklug, könnte man meinen, vor allem wegen der Entfernung zu Lietzow, aber ich wollte die Zeit, die ich auf Rügen verbringen musste, nutzen, um mir die Insel anzusehen. Und Lohme gefiel mir – so klein, so nahe am Königsstuhl – außerdem gibt es in Lohme leckere Fischbrötchen. Jedenfalls verstrichen die Tage wie im Flug und eines Morgens musste ich feststellen, dass es über Nacht einen Meter Neuschnee gegeben hatte und ich vollkommen abgeschnitten war. Aber das focht mich nicht an, ich bleibe immer ruhig und sehe meist das Positive in allem. Zu arbeiten brauchte ich nicht mehr, denn ich hatte den Auftrag bereits am Tag zuvor abgeschlossen. Das machte alles ein wenig unkomplizierter. Ich frühstückte in Ruhe und beschloss dann einen kleinen Spaziergang zu machen.“

„Und dieser Spaziergang“, unterbrach ich ihn, „führte dich bis nach Rugeshus?“, Lüttgrien schmunzelte, „So könnte man es sagen. Ich wusste nicht, wohin mich mein Weg führen sollte, aber wie sagt man so schön: Our doubts are traitors and make us lose the good we oft might win by fearing to attempt.”
“Wie war das?”, mein Gesichtsausdruck muss ziemlich dämlich gewesen sein, denn Lüttgrien lachte laut auf, „Ich liebe Zitate. Das war von Shakespeare. Es sagt uns, dass wir nicht zweifeln dürfen“.
„Woran sollen wir nicht zweifeln?“, fragte ich perplex. „Am Weg, der vor uns liegt“, antwortete Lüttgrien gelassen. „An welchem Weg denn?“, ich war nun vollends verwirrt. „Egal“, Lüttgrien wirkte traurig, „Ich hatte gehofft, dass das Zitat gut passen würde, vielleicht habe ich mich geirrt, vergessen wir es. Jedenfalls wusste ich nicht, wohin mich mein Weg führen würde und so ging ich einfach der Nase nach. Alles war weiß und so wunderschön, dass es mich zur Küste zog. Dort gibt es einen kleinen Wanderweg, der eigenartigerweise nicht verschneit war. Tja und dann kam die Sache mit der Lawine“, Lüttgrien nahm einen großen Schluck Kaffee und sah gedankenverloren zum Finster hinaus. Auf der Villa Piepsi, dem kleinen Vogelhäuschen, hatten sich eine Gruppe Meisen und einige Feldspatzen ein Stelldichein gegeben und flatterten nun empört durcheinander, als der dicke Specht von Nebenan herbeiflog und sein tägliches Quantum an Vogelfutter einstreichen wollte. Der Lärm der streitenden Vögel war ein wohltuender, akustischer Farbklecks, in der vollkommenen, winterlichen Stille. Eine Weile beobachteten wir das rege Treiben und weder Lüttgrien noch ich sagten etwas, so sehr fesselte uns dieses ornithologische Intermezzo.

„Was meinst du mit Lawine?“, fragte ich schließlich, „Eine Schneelawine auf Rügen?“
„Ganz recht“, sagte Lüttgrien und hielt sich an seinem Kaffee fest, „es handelte sich um eine Minirügenschneelawine – ich hätte mir auch nicht träumen lassen, dass es etwas in der Art gibt“. „Der Wanderweg schmiegte sich an einen steilen Hang, der gut 25 Meter hoch war. Gerade denke ich noch daran, wie großartig es wäre, hier schlitten zu fahren und wie schon der blaue Himmel gegen den die grünschäumende See abstach, schon riss es mich von den Beinen. Der Boden kehrte sich auf, der Himmel raste auf mich hinab und die Welt, eben noch sonnig und weiß, wurde schlagartig dunkel und schwarz.“

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