Die Stimme Rügens (Geschichte)

Diese kleine Geschichte ist mir gerade eingefallen, ich hoffe sie gefällt euch.

Die Stimme Rügens

Es schüttet und stürmt und die Bäume tanzen im Halbdunkelblau, vor einem aufgewühlten Horizont. Ich steige den steilen Pfad zum Strand hinab. Die Buchenäste knarren und quietschen, ihre Zweigfinger wirbeln durcheinander – sie spielen die Sturmharfe und die Welt selbst ist ihr Publikum. Immer wilder geht die Musik, so dass es mir in den Ohren heult und ich bleibe kurz stehen und brülle wie besessen drauf los. Ich schreie einfach, denke nicht über das nach, was ich da schreie, darum geht es nicht. Ich möchte der Symphonie Gottes nur meinen Ton hinzuzufügen. Und dafür brülle ich mich nun heiser und strecke die Arme weit von mir und tanze wie wahnsinnig umher. Es fühlt sich unbeschreiblich großartig an, wenn der Ostseesturm in die Lungen wirbelt. Ich taumle weiter, wie besoffen vom Gefühl, Teil des Unwetters zu sein.
Die Ostsee tobt und brüllt – reißt Steine mit sich, schleuderte sie davon und leckt gierig mit ihren tausend grünen Zungen am Strand. Es gurgelt und gluckert, saugt und schwabbelt, hällert und knirschelt, bollert und krobbelt und Gischt wirbelt durch die Luft, wie Sommerschnee.
Das Unwetter ist hungrig und es stillt seine Gier mit Land, das es von den Felsen reißt und großbrockig verschlingt. Die Wellen springen in den Himmel, glitzernde Schlangen mit Schaumflügeln und wälzen sich träge, selbst über die größten Findlinge. Das Meer ist zum Tier geworden: größer als alles, was man sich vorstellen kann. Schrecklich, gigantisch, unheimlich, schäumend und doch großartigschön. Niemand kann sich dieser Bestie nähern, ohne sein Leben zu riskieren, niemand kann sie zähmen, niemand ist ihr gewachsen. Sie ist die Verschlingerin allen Seins und zugleich die Schöpferin der Welt – die Herrin der ewigen Melodie der Tiefe. Wer sich dieser Macht zum Kampf stellt, kann nicht gewinnen. Und doch stehe ich am Strand – nackt, nur mit einem Stecken in der Hand, mit welchem ich mich nun über die rutschigen Steine taste.
Ich erreiche das Wasser, die Wellen greifen mit eisenharten Fingern nach meinen Füßen und ich stürze mich hinein. Eisigstarke Arme greifen nach mir. Ich lasse meinen Stock fahren und gebe mich dem Gefühl der Leere hin. Ich falle ins Nichts und eine weite, unbekannte Nacht erwartet mich, die jenseits des Lebens liegt. Der Sturm donnert und schleudert meinen Körper durch den lichtleeren Raum, ich pralle von unsichtbaren Wänden ab, wirble blind durch einen Tunnel aus Eis, bis tief in den Schoß der Welt hinab – wo das Warum keine Antwort mehr bekommt und alle Sinne schlafen. Eine weiche Decke aus Seegras ist mein Bett. Hier liege ich und das Tier erzählt mir Geschichten vom Anbeginn der Zeit. Mein Körper ist nur noch ein Stein unter vielen Steinen. Meine Seele ist zu einer kleinen Welle geworden, einem Fisch, einer Muschel und gleichzeitig zu allem und nichts. So vergehen 7000 Jahre, oder eine Sekunde und ich höre, außer mir vor Entzücken, dem Universum beim Atmen zu.
Das Unwetter hat sich gelegt, der Wolkenmantel reißt entzwei und die Sterne spiegeln sich weiß und kalt im erschöpften Ostseespiegel. Ich sitze am Strand, durchgefroren, nass, mit blauen Lippen und so glücklich, wie es man es nur sein kann, wenn man die Stimme Rügens gehört hat.

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