Friedrich Lüttgrien – Schachmatt in zwei Zügen (Teil 4)

Lüttgrien grinste breit, so breit wie ich es vorher nicht für möglich gehalten hätte und biss dann ein großes Stück Stuhlbeinbrot ab. „Lawinen sind eine tolle Sache, wenn man sie im Fernsehen sieht und dabei Kaffee trinken kann, aber wenn einem eine zustößt, ist das weitaus weniger lustig. Gerade fragte ich mich noch, was ich wohl zum Mittag essen würde und plötzlich ist gestern übermorgen und die Schwerkraft hat sich frei genommen. Ich purzelte und purzelte und blieb dann liegen, während das Innere meines Kopfes Karussell fuhr – daher wurde mir schwarz vor Augen. Man kann mich nur schwer aus der Ruhe bringen, aber diese Lawine hatte es geschafft. Zum Glück war ich nicht verschüttet, sondern lag bäuchlings auf einem Haufen Schnee und war, bis auf einige blaue Flecken, unversehrt geblieben. Ich konnte mein Handy nicht finden und schien durch den Sturz benommener gewesen zu sein, als ich dachte, denn ich lief prompt in die falsche Richtung, als ich den Heimweg antrat. Ich bemerkte meinen Fehler erst, als ich nach gut zwei Stunden einen Wegweiser erreichte, >>Café Rugeshus – 180m<<.“
„Was?“, unterbrach ich ihn, „Du hast zwei Stunden von Lohme, bis hier her gebraucht? Und erst dann gemerkt, dass du den falschen Weg genommen hattest?“, „Ja“, Lüttgrien schniefte, „alles war tief verschneit. Ich habe mich durchkämpfen müssen und einige Male kam ich gar nicht weiter. Der Wanderweg war praktisch nicht mehr vorhanden und der Steinstrand hatte eine dicke, rutschige Eiskruste bekommen, zum Stürzen wie gemacht. Einmal dachte ich schon, dass ich mir ein Bein gebrochen hatte, aber es war glücklicherweise nur ausgerenkt.“ Ich starrte meinen Gast skeptisch an. Ob er mir die Wahrheit sagte, oder nur mit einer Rambostory angeben wollte? „Ein kräftiger Ruck, ein Knacken und es konnte weitergehen“, Lüttgrien erzählte das so beiläufig, als würde er sich täglich selbst den Blinddarm entfernen. „Es war recht anstrengend den Berg zu erklimmen, denn die Schneewehen waren teilweise sehr tief und ich hatte natürlich die Lawine im Hinterkopf und wollte keiner weiteren begegnen. Dann stürzte unvermittelt ein großer Ast herab, vermutlich war er durch die Schneelast abgebrochen. Er verfehlte mich um fast einen Meter, Glück muss der Mensch haben!“, Lüttgrien lachte kurz auf und ich verkniff mir einen bissigen Kommentar. „Mein Weg führte mich im Zickzack den Hang hinauf, als ein seltsames Loch meine Aufmerksamkeit erregte. Irgendetwas schien bemüht gewesen zu sein, diese Öffnung im Erdreich frei von Schnee zu halten. Ich bin ein begeisterter Naturbeobachter, musst du wissen und daher bückte ich mich, um einen Blick in diese seltsame Höhle zu werfen. Zunächst konnte ich nur Schwärze sehen, also beugte ich mich weiter vor. Da bewegte sich doch etwas, oder hatte ich mir das nur eingebildet? Ich kniff die Augen zusammen – in solchen Situationen vermisst man sein Handy am meisten. Nur eine schwarze, leere und ausgesprochen lange Röhre war zu sehen, die schräg in die Erde führte. Ich beugte mich noch ein wenig weiter vor und dann sprang es mir fauchend entgegen – war ein Waschbär, oder ein Dachs? Ich schrak zurück, verlor das Gleichgewicht, fiel, überschlug mich mehrfach und rumpelte den steilen Abhang hinab, der wirklich sehr hart war. Dabei habe ich mir vermutlich eine Rippe gebrochen, oder mehrere, jedenfalls ziept es seither beim Luftholen ein wenig. Nach weiteren 20 Minuten hatte ich den Berg abermals erklommen, indem ich einen weiten Bogen um das verdächtige Loch machte und nun sitze ich hier, im relativ warmen, sicheren Rugeshus, knabbere Brot, verbrühe meinen Hals mit göttlich heißem Kaffee und kann die schmerzenden Glieder austrecken. Das ist meine kleine Geschichte.“
„Darf ich das noch einmal zusammenfassen“, sagte ich so langsam, als wäre mein Gesprächspartner aus Glas und jedes unbedachte Wort könnte ihn zerbrechen. „Du bist kurz nach Lohme von einer Lawine erfasst worden, der vielleicht ersten Lawine Rügens, hast vermutlich eine Gehirnerschütterung erlitten, weshalb du orientierungslos umhergeirrt bist. Hast dir sodann ein Bein aus- und es selbst wieder eingerenkt, wurdest fast von einem Ast erschlagen und von einem, womöglich tollwütigen Dachs, zu Tode erschreckt, wodurch du abermals schwer stürztest und dir eine, wenn nicht gar mehrere Rippen gebrochen hast. Ist das korrekt?“, ich hatte mich in Rage geredet und war ganz außer Atem.
„Ja“, gab Lüttgrien gelassen zu, „Aber bei dir klingt das alles so dramatisch“, er kratzte sich am Kinn. „Ist Jod im Haus? Ich habe nämlich eine kleine Platzwunde am Knie“, ich seufzte, „Linke oder rechte Seite?“, fragte ich dann. „Beide Seiten und am Kopf auch, das habe ich glatt vergessen“, Lüttgrien strahlte wieder, „Nenn mich doch einfach Friedrich, das ist nicht kürzer, aber persönlicher“, fügte er nach einer Weile hinzu, „Und du kannst den Mund jetzt schließen, so außergewöhnlich war mein Abenteuer nun auch nicht, oder?“, ich schüttelte ärgerlich den Kopf, dieser Kerl machte mich wahnsinnig.

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