Herbstgedanken auf Rügen (Erzählung)

Wenn ihr jetzt nach Rügen fahrt, wo die alte Magie noch am deutlichsten spürbar ist, könnt ihr eure Handflächen auf den Stamm einer Buche legen und die Augen schließen, ganz still sein und mit allen Sinnen lauschen: die Bäume entziehen ihren Blättern die Kräfte und bereiten sich auf den Winter vor. Man spürt den Strom der gewaltigen vitalen Macht, die für uns jedoch meist verborgen bleibt.
Ihr habt keine Vorstellung wie stark ein Baum sein kann. Er wächst über Jahrhunderte – Holzgedanken können sich über eine Jahreszeit hin erstrecken. Wenige Bäume sind wach, die meisten schlafen und träumen von Sommern, von tiefer Erde, eiskaltem Wasser und dem Ostseewind, der nach Salz und Ferne schmeckt. Wir, die Menschen, töten Bäume, da wir keinen Begriff davon haben, was diese hochaufragenden Wesen eigentlich sind. Unser Verstand ist viel zu primitiv, als dass wir uns in eine Pflanzen hineinversetzen könnten. Oder wie Glokkmar, einer der ältesten Bäume auf Jasmund, einmal zu mir sagte:

„Sie (die Menschen) haben keinen Begriff davon was die Welt um sie herum eigentlich ist. Sie sind nur Menschen und leben ihr eigenes kleines, unbedeutendes Leben. Menschen können nur zerstören und selbst wenn sie einmal etwas schaffen, zerstören sie unbewusst etwas an anderer Stelle. Aber die Bäume leben damit, sie wissen, dass der Tod ein wichtiger Bestandteil des Lebens ist. Durch den Tod kann die Hülle eines Wesens, wieder zu Energie werden und helfen, neues Leben hervorzubringen. Somit“, ein knarrendes Geräusch war zu hören, wie wenn große Äste, während eines starken Sturms, knarrend gegeneinander reiben und es klang fast wie ein trauriges Lachen, „Somit tun die Menschen der Natur doch hin und wieder einen Gefallen, nämlich wenn sie sterben.“
Ich denke wir sollten nicht allzu viel darauf geben, was ein knapp 450 Jahre alter Baum zu sagen hat. Bäume werden ab einem gewissen Alter etwas schwermütig, sie haben zu viel gesehen, jedenfalls jene, die nicht schlafen und das sind, wie gesagt, nicht allzu viele. Aber eines stimmt: Menschen töten Bäume viel zu leichtfertig.
Wenn ihr aber mehr diese, so alltäglichen und doch so fremden Wesen wissen möchtet, müsst ihr nach Rügen kommen, wenn sie ihre grünen Tarnmäntel abgelegt haben. Dann scheinen die Wälder tot zu sein – doch auch majestätischer, größer und gebietender. Die Blätter sind schön, verbergen jedoch den wahren, königlichen Charakter dieser herrlichen, lebendigen Säulen, die den Himmel tragen.
Die Welt färbt sich nun langsam bunt – erst zaghaft, schüchtern, als würde kein Baum, kein Strauch den Mut besitzen sich vorzudrängeln. Doch sobald der erste Stein rollt, schließen sich ihm alle an, bis eine Farbenflut jeden Winkel des Waldes und der Felder erfasst und Vorherrschaft des Grünen wegspült. Blätter fliegen in Schwärmen, wie bunte Vögel umher. Regen wird von Stürmen gegen die Fenster gepeitscht, wenn wir uns drinnen rekeln und denken, dass gleich das Dach wegfliegt. Oh ja, man darf sich vor dem Herbst fürchten. Aber er gehört zum Großenganzen dazu, genauso wie jedes zarte Gänseblümchen und jede Biene dazu gehört. Und selbst wenn uns diese Jahreszeit, mit all ihren Unannehmlichkeiten ein wenig Angst macht – geschieht alles zum Wohle der Natur und letztendlich auch uns: Das dürft ihr nie vergessen.

Wenn wir im Oktober vor die Tür von Rugeshus treten, scheint uns der Wald ringsum wie verwandelt zu sein. Als habe eine ganze Schar an Goldschmieden, die Baumkronen, mit ihren Kunstwerken behangen. Fast wie ein Heer von Weihnachtsbäumen sehen sie dann aus, nur dass hier alles echt ist, kein Glas, kein Metall. Das Lametta besteht aus Licht und die Kugeln sind Vögel, die aufgeplustert der Kälte trotzen. Sie springen und fliegen auch mehr als herkömmlicher Christbaumschmuck und verlangen lautstark nach Futter – Villa Piepsi ist dann wieder völlig ausgebucht.
Jedes Blatt ist ein Unikat und zeigt denen, die die Augen dafür haben, die ganze Herrlichkeit der Schöpfung. Denn, was die meisten von uns nicht wissen: diese oft nasse, kalte und unfreundliche Jahreszeit ist nicht das große Sterben – es ist lediglich der Höhepunkt des Sommers, seine kleine unartige, manchmal rotzige Schwester – ein Teil von ihm. Das ist die Regel, aber manchmal ist sie auch artig.
Dann scheint Rügen Teil eines großen, göttlichen Gemäldes zu sein: wenn die Äpfel schwer und saftig an ihren Zweigen hängen. Die Birnen, wie aus purem Gold gegossen, verlockend schimmern, vor dem tiefblauen Himmel, der ausgebreitet vor dem Horizont liegt, wie eine große seidene Fußmatte ohne Muster. Ihr seid dann ein Teil dieses lebendigen Bildes und spürt das Leben klarer, als es je zuvor.

Herbst auf Rügen riecht nach allem, was man im Sommer erlebt hat und einer großen Vorfreude auf den Winter. Ihr glaubt mir nicht? Der Winter ist böse? Wer würde sich schon auf den Winter freuen? Nein, der Winter ist nicht der Tod, er ist die Nacht des Jahres, die Erholung von all den Strapazen. Die Natur jetzt ist sehr müde – nach jedem Sommer ist sie das. Sie gähnt laut und fühlt sich dann wie ihr euch nach einer 20 Kilometerwandertour fühlt, nur viel-viel erschöpfter. Stellt euch vor wie ihr ins Bett fällt, die angenehm kühle Bettdecke bis zum Kinn hochzieht und dann den Schlaf spürt – erst kitzelt er euch nur am großen Zeh, wandert dann aber rasch höher und schon seid ihr ganz woanders und wacht bald mit neuen Kräften auf: voller Vorfreude auf den nächsten Tag.
Genauso geht es der Natur.
Während sie einschläft werden aus den grünen, federweichen Kronenraupen der Buchen, die im Sommer über die Küstengrate Rügens kriechen, zarten Silberlinien, die mit feinen Fingergräten die Wolken zu kitzeln scheinen – ein geheimnisvolles Riff Über der Ostsee. Wenn abends die Sonne über Arkona in einem Feuersee badet, scheinen die nunmehr schwarzen Korallen zu brennen und mit der Schwärze des Himmels zu verschmelzen.
Während die Natur gähnt und ihre tausend Milliarden Augen schließt, denn jedes Leben ist eines davon, webt die Sonne ihre blassgoldenen Fäden auf die raureifglitzernden Stämme, totes Laub bekommt einen weißen Schleier und begrüßt, mit einem glitzernden Lächeln, den Winter.

Und einen Augenblick, bevor die Natur eingeschlafen ist, durchfährt sie ein aufgeregtes Kribbeln der Vorfreude, denn eines steht fest: wenn sie aufwacht ist Frühling!

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