Karl und die Origna (Rügen-Märchen)

Einmal war Karl in den schwarzen Bergen unterwegs. Große Herrscher liegen hier begraben, die man längst vergessen hat. Von einigen Hügelgräbern wissen wir, doch ihre Geschichten sind größtenteils verloren gegangen. Die Schwarzen Berge sind ein kleiner, ein winziger Rest des großen magischen Waldes, der einst ganz Rügen bedeckte. Hier wurde die erste Skofru geboren. Ein Ort der alten Macht.
Man erzählte sich, dass wenn die Origna, die Bewohner der Tiefe, weinen, regnet es. Und wenn die Ränkning, die hellen Bewohner des Himmels, lachen, scheint die Sonne.

Es regnete nun seit schon Monaten, die Kronen der Buchen waren bereits so nass, dass sie keinen Schutz mehr boten und ihre Stämme knarrten im kalten Wind, als murrten sie wegen dem ungemütlichen Wetterlage. Die süßduftenden Blütendolden vom Mädesüß waren vollgesogen wie ein Schwamm und wirkten traurig und schlapp, während die Sumpfdotterblumen eine gelbe Party zu feiern schienen. Die Sonnenblumen knickten hie und da ein, weil ihre Köpfchen zu schwer wurden, daher sahen sie wie schwermütige, gelbbehütete Nonnen aus. Die Pfefferminze dagegen wucherte voller Dankbarkeit und Ausgelassenheit. Schnecken gab es überall in Hülle und Fülle, mit Haus und ohne, Regen ist schließlich ihr Metier. Bienen hatten es dagegen schwer, denn Wasser, das vom Himmel fällt ist nicht gut für ihre Flügel und so blieben sie denn auch zu Hause im Stock. Nachts gab es wenige Motten, denn da regnete es auch und die Fledermäuse gingen mit knurrenden Mägen ins Bett. Die ganze Welt schien einen regelrechten Heulkrampf zu haben.
Wer irgend konnte, verzog sich in seine Wohnung, meist eine Höhle, oder ein Gang und sperrte die nasskalte Welt aus. Mäuse, Ratten, Iltisse, Dachse und Marder, Feldhasen und Kaninchen, jeder schimpfte auf das Wetter, nur die Fischotter fühlten sich wie Fischotter, wenn es seit Wochen regnet, die mögen Wasser. Und die Frösche und Molche waren auch guter Dinge, jedenfalls solange sie nicht auf die Otter trafen.
Die Menschen blieben in ihren warmen Häusern, fast alle Menschen, Karl bildete die Ausnahme. Etwas hatte ihn gerufen, in die Schwarzen Berge. Er hatte den Ruf vernommen und war ihm gefolgt und nun war er hier. Welcher Ruf? Von wem? Das würdet ihr gerne wissen. Aber ein Skalde hat seine Geheimnisse, Instinkte und Vorahnungen. Skalden werden gerufen, mehr kann ich auch nicht dazu sagen. Er sprang: eins, zwei drei – über die Pfützen auf dem Weg und manchmal auch in eine hinein – Platsch! Seine Stiefel waren mit Bienenwachs imprägniert, genauso wie sein Mantel, seine Hose und sein Hut. Doch etwas fehlte noch und Karl wusste auch schon was es war. Er packte seine Trommel aus, schlug sie geschickt und sang ein Regenlied dazu:

Draußen regnets so lala,
Drum bin ich nass – Juheissasa.
Ich hüpfe wild im Kreise,
Auf meine wilde Weise.
Juheissasa was für ein Segen,
Ist das Singen hier im Regen!

Karl liebte improvisierte Lieder und sie zu singen und in Pfützen zu springen war mit weitem Abstand das Beste, was man bei solch einem Wetter machen konnte.
Und so kam Karl an einem kleinen Tümpel vorbei, die Tomte nennen ihn Kruka, das heißt Topf – vermutlich weil er so rund wie einer ist.
Und dort am Ufer fand er sie, eine Origna. Karl nährte sich ihr und sah, dass sie weinte. Er unterbrach sein Singen und Springen und fragte: „Warum bist du denn so traurig?“
Und die Origna erkannte Karl sofort, wer auf Rügen würde ihn nicht sofort erkennen? „ Ich habe mich in einen Ränkning verliebt“, flüsterte sie zögerlich, „Doch er wohnt im Himmel, ich unter der Erde. Ich werde ihn nie erreichen können. Dabei würden wir so gerne miteinander tanzen.“
„Aber du bist eine Origna. Deine Aufgabe ist es, in den Tiefen Hallen zu leben und der Welt Regen zu bringen.“
„Ja“, gab die Origna zu, „ich hasse meine Aufgabe, wäre ich doch nur tot.“ Karl dachte nach.
„Wenn das alles ist, so kann ich dir helfen.“, sagte er dann und zog Fjöru aus der Scheide, das Gezeitenschwert. Die Origna starrte auf die blaugrüne Klinge, als der Skalde seine Waffe hob. Zwei Mal ließ er das Schwert durch die Luft sausen – Ratsch, Ratsch! Und schnitt aus der dichten Wolkendecke einen Streifen heraus. Dann faltete er ihn zu einem hübschen kleinen Boot und ließ die Origna einsteigen. „Komm!“, rief Karl ausgelassen und breitete seinen Schal wie ein Segel aus, „Wir machen einen Abstecher in den Himmel.“
Und Zusammen fuhren sie in den hoch empor. Dort fanden sie auch den Ränkning, er strahlte über sein ganzes Gesicht und küsste die Origna auf die Wange.

„Ich schenke euch dieses Boot“, sagte Karl, „es heißt Komasaman – das Schiff, das zusammenführt. Ihr dürft euch von nun an so oft treffen wie er mögt. Doch achtet darauf, dass die Welt nicht ertrinkt und nicht vertrocknet. Findet einen guten Mittelweg.“
Die Origna und der Ränkning freuten sich über die Maßen und fragten voller Dankbarkeit, was sich Karl als Belohnung wünsche.
„Belohnung?“, fragte Karl, „Zieht eure buntesten Kleider an, wenn ihr am Himmel tanzt. Alle sollen euch sehen und sich mit euch freuen.“

So geschah es dann auch. Und Rügen bekam ein Wetter, mit dem alle zufrieden sein konnten. Manchmal lachte der Ränkning sehr lange, bis die Origna kam und ihn daran erinnerte, dass nun wieder Zeit für Regen war. Und wenn die Origna mal lange Zeit traurig war und die Welt triefte, besuchte sie ihren Ränkning und beide tanzten eng umschlungen über das Firmament.

Und wenn ihr einen Regenbogen am Himmel über Rügen seht, denkt an die Origna und den Ränkning die überglücklich miteinander tanzen.

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