Hagen Schleifer hatte es noch nie sehr mit Orientierung, er konnte sich auf grader Strecke verlaufen und stellte sich dabei so geschickt an, dass er jeden anderen mit ins Verderben riss. Wer mit ihm spazieren ging, musste also auf das Schlimmste gefasst sein und das war allgemein bekannt. Er hatte das, was andere vielleicht Planlosigkeit oder Zerstreutheit nannten, zu einer komplizierten Wissenschaft erweitert und schaffte es sogar stolz auf sein Unvermögen zu sein, auch nur ein einziges Mal pünktlich zur Arbeit zu erscheinen. Oft bekam Hagen deswegen Ärger, war gleichzeitig aber so geschickt in dem was er tat, er hatte einen Bürojob, dass er nie Gefahr lief, gefeuert zu werden. Jeder, der mit ihm zu tun hatte, litt mehr oder weniger unter seiner chronischen Zuspätkommerei.
Dabei konnte er so wunderbar reden, was dazu führte, dass man gerne mit ihm
zusammen war und das Risiko des Verlaufens, der verpassten Termine und alles
andere in Kauf nahm. Er dachte sich ständig neue Geschichten aus, redete über
Politik und Philosophie und selbst wenn er nur Unsinn daherredete, was recht
häufig der Fall war, fast immer sogar, lies man es geschehen. Man konnte sich
beim Klang seiner Stimme fallen lassen und so unfasslich gut abschalten, wie es
nicht einmal bei diesen Apps möglich war, die Wellenrauschen und Regenprasseln
abspielten. Und wenn Hagen dann irgendwann eine Pause machte, vielleicht um
Luft zu holen oder von seinem Brot abzubeißen, das stets an einem massiven
Aufmerksamkeitsdefizit litt – wenn er also eine solche Pause einlegte und
feststellen musste, dass niemand so richtig zugehört hatte, war er nie böse,
sondern lachte nur schallend. Hagen lachte tatsächlich sehr oft und herzlich –
jeder ließ sich davon gerne anstecken, denn Hagens Lachen war wie ein
erfrischender Regen nach einer langen Dürre, der alle Sorgen fortspülte, Stress
linderte und die Seele erfrischte. Er lachte, wenn es passend war, er lachte
wenn es unpassend war und nie konnte sich einer lange diesem Strom der
Fröhlichkeit widersetzen. Sein Wesen war eine Naturgewalt, ein Hurrikan: da wo
er auftauchte hinterließ er seine Spuren.
Und die Geschichten die er sich ausdachte, waren legendär – er erzählte sie
stets mit Elan, als hätte er sie selbst erlebt, als wäre er der letzte
Überlebende einer Expedition und müsste nun so schnell und so schillernd es
geht, seine Erfahrungen weiterreichen. Manchmal machte er sich wildfremde
Menschen auf der Straße zum Publikum, ohne zu fragen, ohne Scheu ertränkte er
sie in einem Schwall von Worten. Er verstellte seine Stimme, hüpfte auf und ab
und machte so viel wildes Brimborium, als hätte er eine ganze Theatergruppe
verspeist, die nun, voller Wut, sehr viel Alkohol und harter Drogen, aus seinem
Inneren wieder ausbrechen wollte. Einige Male hatten diese Spontanchen, wie er
seine poetischen Exzesse nannte, ein großartiges Ende, mit Lehre und allen
Schikanen. Doch meistens verstrickte er sich in seinen eigenen wilden Sprüngen,
bekam Husten- oder Lachanfälle, vergaß die Hälfte der Namen und verwickelte
sich so rettungslos in den Wirren seiner eigenen Fantasie, dass er den Handlungsstrang
mit Gewalt niederringen musste, wie Herakles die Hydra. Dann brach er nicht
selten zusammen, schweißüberströmt, mit heraustretenden Augen und dem wilden
Blick eines Mannes, der eine Woche lang ohne Wasser durch die Wüste gezogen
ist, um dann unverhofft vor einem Eisverkäufer zu stehen. Ja, ein gewaltiger
Redner war dieser Hagen.
Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie so ein Spontanchen aussah? Dann muss ich da wohl Abhilfe schaffen. Ich erzähle euch die Geschehnisse, ganz haarklein. Ich weiß nicht mehr wann das alles passiert ist, aber der Zeitpunkt ist doch auch egal. Jedenfalls schlenderte Hagen mit einigen Leuten durch die Innenstadt und hatte plötzlich Lust auf eine Geschichte. Also ließ seine Fingerknöchel knacken und schnappte sich ein Bier von Thomas. Thomas hatte immer welche dabei, Thomas konnte immer Bier besorgen – ein Teufelskerl dieser Thomas. „Zum Kehle feuchthalten“, erklärte Hagen, nahm einen großen Schluck und legte dann los.
„Der blaue Sonnenuntergang – Ein Spontanchen von Rügen“, rief er, die Arme ausbreitend und wie ein Irrer lachend. Jetzt hatte er die volle Aufmerksamkeit aller, die sich auf dem Platz befanden. Da waren eine Frau mit ihrer Tochter, die ein T-Shirt trug auf dem eine Graugans gedruckt war. Ein paar ältere Damen saßen auf einer Bank und sahen ihn so mürrisch an, als wäre seine bloße Gegenwart bereits ein Verstoß gegen irgendwelche Gesetze, die nur sie kannten, es aber der Welt im Allgemeinen übel nahmen, dass nur sie sie kannten – ihr kennt diese monierten alten Schachteln. Ein junger Typ stand am Brunnen neben seinem Mountainbike, die Schirmmütze tief über die Augen gezogen. Man sah einen Koch, einen Politiker, jedenfalls war es ein Mann mit Anzug, der irgendwas Politisches an sich hatte und natürlich zwei gelangweilte Polizisten.
„Vor ca. 1500 Jahren“ begann Hagen munter und sprang auf und ab, „vielleicht
auch vor etwas weniger langer Zeit, lebte auf Rügen eine Prinzessin, die von
allen Insulanern Prinzessin Allesweiß genannt wurde. Dies hatte jedoch nichts
mit ihrem Intellekt oder ihrer hervorragenden Allgemeinbildung zu tun.
Prinzessin Allesweiß war strunzdumm, vollkommen verblödet, saudämlich,
hoffnungslos hohl im Kopf. Ihr Gehirn war weniger als eine Stück aufgeweichtes
Toastbrot, eine ausgebrannte Glühbirne (damals gab es noch keine Glühbornen),
eine Handvoll Torf, eine schrumpelige Kartoffel. Ich könnte ewig so weiter
machen.“
Das kleine Mädchen mit dem Gänse-T-Shirt musste lachen. „Man war die dumm!“,
rief sie begeistert. Hagen lächelte ihr zu und nickte.